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Prigoschin hisst Flagge auf Bachmuter Rathaus – oder was davon übrig ist

Prigoschin hisst Flagge auf Bachmuter Rathaus – oder was davon übrig ist

03.04.2023, 16:4203.04.2023, 17:43
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Nach dem tödlichen Anschlag auf den russischen Propaganda-Blogger Wladlen Tatarskij am Sonntagabend vermeldete die Wagner-Gruppe, dass die umkämpfte Stadt Bachmut nun komplett unter ihrer Kontrolle sei. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin zeigte sich dazu in einem Video, in welchem er die russische Flagge zu Ehren Tatarskijs auf den Trümmern des Bachmuter Rathauses hisste.

Prigoschin hat sich in den letzten Monaten vermehrt vor der Kamera gezeigt, während er in der ersten Phase des Krieges fast unsichtbar war.
Prigoschin hat sich in den letzten Monaten vermehrt vor der Kamera gezeigt, während er in der ersten Phase des Krieges fast unsichtbar war.bild: telegram/orkestr wagnera

Dazu behauptete er, mit der Einnahme des Rathauses habe er Bachmut nun «im rechtlichen Sinne erobert». Im rechtlichen Sinne stimmt dies natürlich nicht, da der russische Einmarsch in die Ukraine völkerrechtswidrig ist und eine gehisste Flagge keinen Vertrag darstellt.

Die Aufnahmen in Schwarz-Grün-Optik von Nachtsichtgeräten liessen offen, ob es sich wirklich um das Rathaus von Bachmut handelt. Im Hintergrund sind bloss eine Fassade, Äste einer Tanne und ein zerbombtes Gebäude zu sehen. Ein weiteres Video zeigt allerdings einen (unkenntlich gemachten) Soldaten mit Wagner-Abzeichen, der vor einer Tür mit der Aufschrift «Bachmut Bezirksrat» steht. Doch auch diese Aufnahmen bieten keine stichfesten Beweise.

Ein Soldat der Wagner-Truppe im Rathaus von Bachmut.
bild: telegram/orkest wagnera

Ein drittes, am Montag veröffentlichtes Video schafft Klarheit. Es ist eine Drohnenaufnahme, die eine russische Flagge mit Inschrift für Tatarskij sowie daneben eine Wagner-Fahne zeigt, die in einem Trümmerhaufen stecken. Das Video zoomt hinaus, und mithilfe der umgebenden Gebäude lässt sich schnell feststellen, dass Prigoschins Worte nicht ganz aus der Luft gegriffen sind:

Video: watson

Besonders der grosszügige Brunnen gegenüber mit der Brücke und das Gebäude mit der abgerundeten Ecke rechts der Trümmer lassen keinen Zweifel, dass es sich um das Rathaus handelt.

Das Rathaus von Bachmut vor dem Krieg.
Das Rathaus von Bachmut vor dem Krieg.bild: google maps/streetview

Was heisst das für Bachmut?

Die Einnahme des Rathauses (oder was davon übrig ist) hat neben dem hohen symbolischen Wert auch einen strategischen: Der Vorstoss zum Rathaus ist zugleich auch ein Vorstoss ins Stadtzentrum. Den ukrainischen Kräften bleibt somit nur noch ein Rückzug in den Westen der Stadt.

Wagner-Söldner und reguläre russische Truppen stehen mittlerweile im Süden, Osten und Norden der Stadt. In dem blutigen Häuserkampf wird um jede Strasse, um jedes Haus erbittert gekämpft. Tausende, vielleicht sogar Zehntausende Soldaten auf beiden Seiten haben bereits ihr Leben verloren.

Auch wenn die russische Offensive laut westlichen Einschätzungen ihren Scheitelpunkt erreicht hat, konnte die Kreml-Armee zuletzt wichtige ukrainische Verteidigungslinien in Bachmut durchbrechen: Mitte März fiel das Eisen- und Metallwerk im Norden der Stadt, das die Ukraine eigentlich zur «uneinnehmbaren Festung» ausgebaut hatte. So haben die Russen bereits an mehreren Stellen den Fluss Bachmutka überquert, eine der letzten natürlichen Verteidigungslinien in ukrainischer Hand.

Trotz des hohen Blutzolls auch bei den eigenen Truppen lehnt die ukrainische Regierung weiterhin einen Rückzug ab. Auch Präsident Selenskyj hatte Bachmut vergangenen Dezember zur «Festung» erklärt und war selbst in die Frontstadt gereist, um Soldaten für ihren Mut zu würdigen. Bei seiner Rede im US-Kongress wenige Tage später hatte der Präsident auch eine ukrainische Flagge im Gepäck, mit den Unterschriften der Verteidiger von Bachmut.

Bild

Für Selenskyj ist die Stadt zum Symbol des ukrainischen Widerstands geworden, eine Einnahme würde dieses Symbol beschädigen. Vor Kurzem betonte Selenskyj noch einmal die politische Bedeutung von Bachmut: Sollte die Stadt in die Hände der Russen fallen, würde Wladimir Putin «diesen Sieg an den Westen, an seine Gesellschaft, an China, an den Iran verkaufen». Wenn der Kremlchef «Blut rieche» und merke, dass die Ukraine Schwäche zeige, würde er seine Angriffe beschleunigen.

Der ukrainische Soldat Maksym* (Name geändert) sieht die Verteidigung von Bachmut kritisch. «Politisch wäre es für Selenskyj schlecht, wenn die Russen die Stadt einnehmen. Seine Zustimmung würde sinken», so Maksym zu t-online. Doch dazu werde es schon bald unweigerlich kommen, ist der Drohnenpilot überzeugt: «Bachmut wird fallen.»

Die monatelange Verteidigung Bachmuts hatte für die Ukraine allerdings auch strategische Gründe. Durch die starken ukrainischen Verteidigungslinien verloren die russischen Angreifer deutlich mehr Soldaten als die Verteidiger – Experten schätzen das Verhältnis auf 5:1. Diese Kämpfe haben Kiew Zeit verschafft, die man zur Vorbereitung einer möglichen Frühjahrsoffensive in diesem Jahr brauchte.

Maksym kämpfte bis Januar drei Monate in Bachmut und ist seit März wieder dort stationiert. Er berichtet von immer neuen Angriffswellen, mit denen Wagner-Söldner die ukrainischen Stellungen unter Druck setzen. Die Ukraine brauche permanent «Frischfleisch» (gemeint sind neue Soldaten), um Verluste wettzumachen, sagt Maksym. Zwar sei Bachmut weiterhin ein «guter Ort, um russische Truppen effektiv zu töten». Doch die Lage für die ukrainischen Truppen werde immer schwieriger, da bald eine Einkreisung der Stadt drohe.

«Jeder kann sterben, jederzeit»

Der Drohnenpilot Maksym kritisiert die ukrainische Regierung auch aus einem anderen Grund: «Warum sind noch rund 15'000 Zivilisten in Bachmut?», fragt er. Die Armee hätte sie längst aus der Stadt bringen müssen, Bachmut sei eine Todeszone: «Jeder kann sterben, jederzeit.» Vor Kurzem habe er gesehen, wie Kinder auf der Strasse spielten, obwohl in der Nähe russische Granaten einschlugen. Sie hätten einfach weitergespielt, als wenn nichts wäre, so der Soldat.

Ein 12-jähriges Mädchen habe ihm «Frohe Weihnachten» gewünscht, er habe nur mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: «Kind, es ist Februar». Viele Menschen lebten von der Aussenwelt abgeschnitten, sagt Maksym, die humanitäre Lage in der Stadt sei dramatisch. Auch habe die Anwesenheit von Zivilisten taktische Nachteile für die Ukrainer: Bewohnte Häuser könnten nicht als Schutz vor Angriffen genutzt werden.

Die zunehmend düstere Lage für die Ukrainer in Bachmut heizt auch die Debatte über die geplante ukrainische Gegenoffensive an. Kiew hat für die nächsten Wochen oder Monate eine weitreichende Angriffsoperation angekündigt, die sogar die Krim befreien soll. Präsident Selenskyj hatte seiner Bevölkerung versprochen, 2023 werde das «Jahr des Sieges».

March 22, 2023, Bakhmut, Donetsk Oblast, Ukraine: Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy, center, poses with soldiers defending positions during a visit to the frontlines in the Donetsk region, March ...
Wolodymyr Selenskyj bei einem Truppenbesuch in Bachmut.Bild: www.imago-images.de

Doch zuletzt kamen vermehrt Zweifel auf, inwieweit die ukrainischen Streitkräfte noch in der Lage sind, eine wirksame Gegenoffensive zu führen – vor allem angesichts der Tatsache, dass die Ukraine ihre Kräfte in der Schlacht um Bachmut weiter aufreibt. Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck zeigt sich vorsichtig optimistisch: «Durch die Panzerlieferungen und die Unterstützung mit weitreichender Artillerie aus dem Westen sind die Chancen einer erfolgreichen Gegenoffensive der Ukraine gestiegen.»

Der Militärexperte gibt aber zu bedenken, dass die russische Armee heute besser in der Lage sei, einen ukrainischen Gegenangriff aufzuhalten als noch im September 2022 in der Region Charkiw, wo Russland eine demütigende Niederlage einstecken musste. Russland sei diesmal vorbereitet und habe an manchen Frontabschnitten solide Verteidigungsanlagen gebaut, so Mangott.

«Maximalistisches» Kriegsziel

Dass die Ukraine auch die Krim erobern könnte, hält Mangott allerdings für «nahezu ausgeschlossen». Auch andere Militärexperten im Westen halten das für wenig wahrscheinlich. Zugleich scheint die Ukraine von diesem Ziel nicht abweichen zu wollen. Offenbar, um diesen Anspruch zu unterstreichen, hat der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, Olexij Danilow, einen «12-Punkte-Plan» für die Krim vorlegt.

Er soll darlegen, was Kiew nach einer möglichen Befreiung der Halbinsel vorhat. Danilow fordert unter anderem die «Entgiftung» der lokalen Bevölkerung von russischer Propaganda. Auch von «Säuberungen» und einer «Entnazifizierung» ist die Rede.

Das Papier hat international für Aufregung gesorgt. Auch Politikwissenschaftler Mangott äussert sich kritisch: «Was die Ukraine da verkündet hat, damit erobert sie sicherlich nicht die Herzen der Krim-Bewohner.» Er habe seine Zweifel, ob es klug war, diese Pläne öffentlich zu machen. Kiew habe dem Westen und Russland wohl klarmachen wollen, dass es weiter sein«maximalistisches Kriegsziel» verfolge. Das Signal solle sein: «Wir gehen bis zum Ende, wir möchten die ganze Ukraine zurück.»

(cpf/t-online)

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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
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80 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Maurmer
03.04.2023 16:54registriert Juni 2021
Die Dummheit der Menschen ist grenzenlos…

Da hat der Schlächter Zehntausende in den Tod gesandt, nur um dann einen Fetzen Stoff in Weiss, Blau und Rot in einen Haufen Schutt zu stecken. Wann kommen diese Irren endlich zur Raison (oder werden von den nächsten hunderttausend Kanonenfutter zur Raison gebracht)

Und diejenigen, die sie vorgeben befreien zu wollen bringen sie bei der Gelegenheit gleich auch noch um.
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JBV
03.04.2023 17:06registriert September 2021
Schrecklich! Die Russen bezeichnen die Eroberung eines solchen Trümmerhaufens dann auch noch als "Befreiung". Schrecklich!
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Martin Baumgartner
03.04.2023 16:59registriert Juni 2022
Jewgeni Prigoschin nimm die Fahne da herunter!
Ich sage Dir dafür auch wo Du sie Dir hinstecken kannst!!!
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