Mit dem KI-Tool DeepSeek schockieren die Chinesen derzeit gerade die USA. Der amerikanische Vorsprung in Sachen künstlicher Intelligenz scheint eine Illusion gewesen zu sein. Erstaunt Sie das?
Ralph Weber: Nein. China hat sehr viele Ressourcen für die KI aufgewendet. Gleichzeitig gibt es in China auch sehr viele ehrgeizige Unternehmer. Der Erfolg von DeepSeek ist die Folge davon. Aber machen wir uns nichts vor: Diese KI-Tools sind nicht unschuldig, sie werden auch politisch eingesetzt. Fragt man DeepSeek beispielsweise nach dem Massaker rund um den Tiananmen Square, erhält man keine Antwort.
Muss uns das Angst machen?
Angst ist kein guter Ratgeber. Die Rivalität zwischen den USA und China ist eine Tatsache. So gesehen ist es nicht überraschend.
Überraschend ist jedoch, dass China offenbar in Sachen KI gleichgezogen hat. Die Amerikaner haben Exporte der besten Chips nach China verboten.
Die Software-Technologie kann ich nicht kommentieren, da bin ich kein Fachmann. Die Chinesen forcieren die KI mit Fünfjahresplänen ganz bewusst und systematisch, genauso wie andere Schlüsseltechnologien. Im Bereich Cleantech, bei Solaranlagen, Elektroautos und Batterien, gelten sie bereits als führend. Ihre Industriepolitik zeigt Früchte.
Ihr Spezialgebiet sind die Beziehungen zwischen der Schweiz und China. Wie beurteilen Sie die Lage in einer sich abzeichnenden neuen Weltordnung?
Die Schweiz hat lange vor allem den Handel betont und politische Anliegen wie die Menschenrechte immer wieder in den Hintergrund gestellt.
Immerhin hat 1999 die damalige Bundespräsidentin Ruth Dreifuss den damaligen chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin sehr verärgert, indem sie die Tibet-Frage ansprach.
Der Eklat war im Umgang von Bern mit China vielleicht ein Wendepunkt. 2001 trat China der WTO bei. Fortan stand der Handel im Vordergrund. In den letzten zehn Jahren wurde das Verhältnis wieder komplizierter. Donald Trump startete seinen Handelskrieg, die Vorfälle in Hongkong passierten, dann kam auch noch die erneute Repression gegen die Uiguren. Seit einigen Jahren fährt daher etwa die EU einen härteren Kurs gegenüber China.
Und wie regiert die Schweiz?
Im Grunde genommen würde man gerne mit dem Handels-Modell weiterfahren. Aber man riskiert dabei, dass die EU und die USA vermehrt Druck auf uns ausüben werden.
China ist das drittwichtigste Exportland der Schweiz. Es steht somit einiges auf dem Spiel, oder?
Die Zahlen sind heikel. Es hängt etwa davon ab, ob man die Gold-Exporte mitzählt oder nicht. Wir exportieren viel Gold nach China. Volkswirtschaftlich ist dies jedoch weniger bedeutend. Zudem ist China nur an dritter Stelle, wenn wir die EU als solche rechnen. Vor allem müssen wir bedenken: Unsere grössten Exportmärkte sind die USA und Deutschland. Beide sind je doppelt so gewichtig wie China. China ist nicht unwichtig, aber man darf es auch nicht überbewerten, wie dies Bundesbern bei Bedarf gerne tut.
Angesichts der Strafzoll-Drohungen von Trump, die auch die Schweiz betreffen können, ist es doch naheliegend, dass man vermehrt auf China ausweichen will.
Trump lässt die Muskeln einer Grossmacht spielen. Er macht eigentlich genau das, was man von einem tonangebenden China befürchtet hat. Wie die Schweiz sich zwischen diesen Grossmächten bewegen wird, ist noch unklar.
Was spricht gegen ein weiteres Durchwursteln?
Das war bisher unsere Politik. Jetzt wird es interessant, was die EU machen wird. Wird sie sich von den USA autonomer aufstellen? Etwas, was China immer gefordert hat. Das Verhalten der USA unter Trump drängt die EU in diese Richtung. Deshalb hat China letztlich Freude am Gebaren von Trump. Alles, was den sogenannten Westen spaltet, spielt China in die Karten.
Neutralität ist die heilige Kuh der Schweiz. Lässt sie sich in der neuen Weltordnung noch aufrechterhalten?
Darüber wird ja auch heftig debattiert. China sieht unsere Neutralität jedenfalls mit Wohlwollen, gerade jetzt, wo wir im Begriff sind, das Freihandelsabkommen neu zu verhandeln. Wirtschaftlich macht eine Nachverhandlung sicherlich Sinn. Aber man muss sich auch fragen, welche politischen Kosten damit verbunden sind.
In der neuen Weltordnung sind moralische Fragen wie Menschenrechte zweitrangig geworden. Jeder versucht doch, das Beste für sich selbst herauszuholen.
Das ist so, unabhängig davon, ob und mit welcher Überzeugung die Menschenrechte in den Verfassungen stehen. Heute werden die Werte der Menschenrechte zunehmend in Interessen umdefiniert. Damit können sie gegen andere Interessen aufgewogen werden. Mit anderen Worten, sie werden verhandelbar. Das war früher nicht der Fall.
Zyniker würden antworten: Das ist doch gut so. Endlich hört so die Heuchelei mit den Menschenrechten auf.
Kann man. Man darf sich dann aber nicht damit brüsten und nur auf Menschenrechte pochen, wenn sie einem nützen. In meinen Augen besteht der Denkfehler darin, dass die zweifelsfrei stattfindende Instrumentalisierung der Menschenrechte zunehmend die Idee der Menschenrechte unterminiert hat, während ganz einfach diejenigen an den Pranger gehören, die sie instrumentalisieren. Denn auch in der heutigen Welt sind Menschenrechte nach wie vor eine gute und wichtige Idee.
Neuerdings ist die Rede von einer neuen «Achse des Bösen», bestehend aus Russland, China, dem Iran und Nordkorea, gegen den Westen. So gesehen muss sich die Schweiz klar auf der Seite des Westens positionieren. Hat sich mit der erneuten Wahl von Trump daran etwas geändert?
Das lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Sicher ist die Geopolitik noch komplizierter geworden. Die erwähnte «Achse des Bösen» ist allerdings keine Allianz, die Mitglieder würden sich jederzeit gegenseitig das Messer in den Rücken stecken, sollte es ihren Interessen dienen. Umgekehrt rüttelt Trump an der Werte-Gemeinschaft dieses Westens, insoweit es diese eben doch gegeben hat, aber auch an der Bedeutung des Multilateralismus. Mit «Make America Great Again» begibt man sich auf das Niveau der Autokraten und verliert so wichtigen Handelsspielraum, auch gegenüber China.
Nochmals zynisch gesagt: Genau deswegen könnte die Schweiz mehr Spielraum in der China-Frage erhalten.
2021 hat die Schweiz eine China-Strategie veröffentlicht. Darin gibt es einen Abschnitt über die Schweiz im internationalen Gefüge. Er sagt viel über unser Selbstverständnis aus: Er beginnt damit, dass sich die Schweiz als neutral und blockfrei definiert. Danach folgt jedoch sogleich die Feststellung, dass es mit europäischen Staaten und der EU eine weitgehende Werte-Überlappung gebe, während wir uns mit Ländern ausserhalb Europas, die ähnliche Interessen verfolgen, koordinieren. Wir sagen somit: Wir stehen auf keiner Seite, aber dem Westen stehen wir am nächsten. Damit sind wir bisher gut gefahren. Auch während des Kalten Krieges waren wir ja ein «westlicher Neutraler» und spielten als solcher eine von allen Seiten akzeptierte oder wenigstens geduldete Rolle. Wir waren nützlich.
Jetzt aber machen wir die Sanktionen gegen Russland mit, zumindest teilweise.
Ja. Wenn die neue Weltordnung jedoch bedeutet, dass es wieder zu einer Politik der Grossmächte kommt, dann ist unklar, ob wir wieder einfach als «westlicher Neutraler» geduldet werden. Falls die UNO garantieren könnte, dass nationale Interessen respektiert werden, dann könnte das funktionieren. Neutralität lebt grundsätzlich davon, dass sie von den anderen Ländern anerkannt wird. Russland hat ja dann auch schnell verlautbaren lassen, dass die Schweiz eben nicht mehr neutral sei.
Dann sehen Sie das Problem eher in der Grossmächte-Politik als in der «Achse des Bösen»?
Auch die Chinesen fordern einen neuen Typ der Grossmächte-Politik. Sie bestehen auf bilaterale Verhandlungen, und in diesen Verhandlungen sind sie stets der Stärkere und haben damit automatisch auch die besseren Argumente. Die gleiche Entwicklung zeichnet sich bei den Amerikanern unter Trump ab. In einer Welt, in der die Grossmächte das Sagen haben, ist es schwierig zu sehen, wie sich ein kleines neutrales Land wie die Schweiz durchsetzen kann. Nur mit ein paar guten Dienstleistungen können wir uns da kaum durchmogeln.
China positioniert sich auch als das Land, das Ernst macht mit einem Green New Deal. Während Trump auf «drill, Baby, drill» setzt, setzen die Chinesen auf Elektroautos und Solarpanel.
Gleichzeitig sind sie jedoch nach wie vor der grösste Emittent von CO₂. Aber es trifft zu, dass China schon lange erkannt hat, dass die Ökologie ein echtes Problem darstellt, aber dabei geht es auch um die Legitimität des Regimes. Die Umweltproblematik und die Politik sind in China ganz anders verzahnt als bei uns.
Immobilienkrise, Überalterung, Jugendarbeitslosigkeit. China scheint sich in einer Wirtschaftskrise zu befinden. Die Beurteilungen dazu sind geteilt. Wie sehen Sie das?
Die Wachstumszahlen schrumpfen seit einiger Zeit.
Was normal ist.
Aber die erwähnten strukturellen Probleme gibt es. Die Partei gibt sich zwar grosse Mühe, sie in den Griff zu bekommen. Aber die Kommunistische Partei herrscht, sie steht sogar über dem Staat. Das hat Vorteile, aber eben auch gewichtige Nachteile. Vergessen wir nicht: Alles, was die politische Organisation betrifft, ist in China immer noch marxistisch-leninistisch organisiert. Manche sprechen von einem Staatskapitalismus, einem Ausdruck, den man in Peking allerdings gar nicht gerne hört.
Blicken wir in die Zukunft: Wie kann sich die Schweiz in einer Grossmachts-Weltordnung weiter durchschlängeln?
Es wird etwa versucht, über Freihandelsabkommen gute Bedingungen für die Wirtschaft zu sichern. Aber das Abkommen mit Indonesien wurde nur ganz knapp angenommen. Gegen das nachverhandelte Freihandelsabkommen mit China wird vielleicht das Referendum ergriffen. Aussenpolitisch muss die Schweiz damit rechnen, dass der durch die Rivalität der beiden Grossmächte USA und China ausgelöste Druck auf sie zunehmen wird. Das Verhältnis mit der EU wird noch mehr ins Zentrum rücken.
Muss sich die Schweiz zwangsläufig einem der drei Blöcke China, USA und – was naheliegend ist – der EU annähern?
Es wird wohl auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung mit der EU herauslaufen und umgekehrt. Lohnt sich der Sonderfall Schweiz noch oder nicht? Die Verhandlungsmacht ist dabei nicht zwingend auf der Seite der Schweiz. Und dann stellt sich auch die Frage: Was passiert mit dem wichtigen Handelspartner USA, wenn sich die Schweiz der EU annähert, aber die EU sich gegenüber den USA stärker autonom verhalten wird?
Wie kann sich die Schweiz auf diese Aufgaben vorbereiten?
Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir kaum Thinktanks, die Analysen erstellen und neue Ideen lancieren können. Auch an den Universitäten wird gespart. In dieser Beziehung sollten wir umdenken, denn in der neuen Weltordnung wird es sehr wichtig sein, dass man die Welt in ihren komplexen Dynamiken auch versteht.
Was Xi Shinping und seine Partei-Mafia allerdings verbrechen, ist etwas ganz anderes!
DIE gehören wirklich zur "Achse des Bösen"!
Denn sie stärken Putin den Rücken, der Europa und seine Werte zerstören will, so wie er derzeit die Ukraine terrorisiert, die es in seiner verrückten Ideologie gar nicht gibt.
Also zurück zu dieser Chinesin: Schön und wunderbar, dass es sie gibt, und dass sie hier in der Schweiz lebt und arbeitet! Ihre Sommerferien verbringt sie zusammen mit ihrer Tochter in ihrer Heimat