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Ukraine: Unterwegs mit Leichensammlern der «Schwarzen Tulpe»

April 12, 2023, Kyiv, Ukraine: Servicemen hold Ukrainian flag by the coffin during the funeral of Evgeny Yakovlev, 42, a soldier killed by Russian forces on eastern Ukrainian front in a combat, at the ...
Soldaten trauern auf einem Friedhof in Kiew um einen anderen Soldaten.Bild: imago

Vermisste Soldaten in der Ukraine – unterwegs mit Leichensammlern der «Schwarzen Tulpe»

In der Ukraine gelten mehr als 7000 Soldaten als verschollen. Auf den Schlachtfeldern sucht die Organisation «Schwarze Tulpe» nach ihnen. So können die Angehörigen am Ende ihre Liebsten bestatten.
07.05.2023, 13:4007.05.2023, 13:41
Kurt Pelda, Bohoroditschne / ch media
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Vor dem Bahnhof von Slowjansk steht ein weisser Kleinlaster, auf dem grosse rote Kreuze prangen und die Zahl 200. In der Ukraine weiss inzwischen jedes Kind, was dieser Code bedeutet: 200 steht für Tote und 300 für Verwundete. Es nieselt, und am Himmel hängen die Wolken tief.

Oleksij Jukow und fünf seiner Mitarbeiter fahren mit dem weissen Kühllaster los zu einem Dorf nordwestlich der Industriestadt Slowjansk. Das Dorf Bohoroditschne ist vollkommen zerstört von den Kämpfen.

Zweimal erobert

Zuerst beschossen es die Russen im Frühling 2022, als sie es schafften, von Norden her über den Donez-Fluss überzusetzen und die Hügelzüge rund um die kleine Ortschaft zu erobern. Im letzten Herbst kamen die Ukrainer dann mit einer grossen Gegenoffensive zurück und vertrieben die Invasoren. Nun liegt das verlassene Dorf weit weg von der Front. Nur ganz undeutlich ist in der Ferne noch Artilleriefeuer zu hören.

Seit fast 25 Jahren sucht Oleksij Jukow nach Leichen. Über seine erste Leiche stolperte er im Alter von sieben Jahren, als er mit Freunden auf einem Gelände in Slowjansk spielte, auf dem gerade ein Spital gebaut wurde. Es stellte sich heraus, dass zu diesem Zweck ein alter Friedhof umgegraben worden war.

Seit diesem Erlebnis beschäftigt den heute 37-Jährigen die Frage, warum Tote nicht ihren Angehörigen übergeben und ordentlich bestattet werden. Als Erwachsener suchte er nach den Gebeinen deutscher und russischer Soldaten aus den beiden Weltkriegen. Und seit der teilweisen Besetzung des Donbass durch russische Truppen und Separatisten im Jahr 2014 erhalten er und seine Leute immer wieder Anrufe von verzweifelten Eltern oder Geschwistern, die ihre auf dem Schlachtfeld verschollenen Angehörigen suchen.

Jukows Organisation heisst «Schwarze Tulpe». Der Name erinnert an das Transportflugzeug, das in den 1980er-Jahren gefallene Soldaten der Roten Armee aus Afghanistan in die Heimat zurückflog. Schon damals wurde der Code «Fracht 200» benützt. Im Volksmund hiess die zum Leichentransporter umfunktionierte Antonow-Maschine «Schwarze Tulpe».

Weisse Tennisschuhe im Morast

Der neue Krieg, der seit über einem Jahr tobt, bringt Jukows Hilfswerk nun an die Kapazitätsgrenze. Die ukrainischen Behörden suchen inzwischen nach mehr als 7000 vermissten Soldaten. Wie viele es auf der russischen Seite sind, weiss niemand. Aber wenn die «Schwarze Tulpe» Überreste von Russen findet, werden diese ebenfalls eingesammelt und – wenn es die Situation zulässt – gegen gefallene Ukrainer ausgetauscht, welche die Russen zuvor geborgen hatten.

Jukow trägt Gummistiefel, denn das Gelände besteht abseits der Wege immer noch aus Morast. Bekleidet ist er mit einem Tarnanzug, wie ihn Jäger tragen. Als die kleine Kolonne losmarschiert, hört es zu regnen auf. Mit von der Partie ist neben einem ukrainischen Journalisten auch ein zweiköpfiges dänisches Fernseh-Team. Der Kameramann trägt weisse Tennisschuhe und weisse Socken – nicht gerade die ideale Ausrüstung für die zu Ende gehende Schlammsaison. Jukow ermahnt uns alle: «Hier im Wald kann es überall Minen und Blindgänger haben. Marschiert also alle hintereinander, in den Fussstapfen des Vordermanns.»

Der Marsch führt durch einen zerstörten Wald. Raketen und Granaten haben viele Baumwipfel geköpft. Manchmal erinnert die Gegend an die Bilder des Ersten Weltkriegs. Sporadisch passieren wir Schützengräben, Bunker und Stacheldraht oder Wracks von Lastwagen und Panzern sowie Raketen, die nicht explodiert sind. Munition, rostige Panzerfäuste, Handgranaten und Panzerminen liegen verstreut herum.

Schlacht auf der Hügelkuppe

Nach etwas mehr als einer Stunde erreichen wir eine flache Hügelkuppe, auf der offenbar heftig gekämpft wurde. «Wir erhielten Informationen, dass sich hier irgendwo zwei vermisste ukrainische Soldaten befinden könnten», erklärt Jukow. «Wir durchsuchen eine Fläche von etwa einem Quadratkilometer. Wir haben hier schon zwei Tage verbracht und dabei Knochenreste eines Soldaten gefunden. Aber weil es viele Minen hatte, mussten wir warten, bis Minenräumer das Gelände absuchten und die Sprengkörper entschärften.»

Etwa 30 Meter neben der Schlammpiste stossen die Männer auf einen länglichen Erdhaufen. Offenbar wurde er in aller Eile aufgeschichtet. Man sieht sogar eine helle Stelle, wo möglicherweise die Schädeldecke eines Toten durchschimmert. Die Helfer markieren das mutmassliche Grab mit rot-weissen Bändern und beginnen, die Erde vorsichtig abzutragen. Sie graben auch mit den Händen und zerquetschen die schlammige Erde zwischen den Fingern, damit ihnen kein Beweisstück entgeht. So finden sie schnell ein Handy und einen Handgranatenzünder.

Mit der Zeit wird die Uniform des Gefallenen sichtbar, darunter ein paar Rippenknochen. Die Leiche muss schon recht lange hier liegen, denn nur am Schädel ist noch Gewebe vorhanden. Der Mann hatte kurzes blondes Haar. Wo früher sein linker Oberschenkel war, befindet sich eine gebrauchte Venenstaubinde. Damit hat der Soldat - oder einer seiner Kameraden - versucht, die Blutung zu stoppen. Jukow meint, dass während des Kampfs wohl ein Fuss abgerissen wurde. Der Mann sei höchstwahrscheinlich verblutet. «Die Leiche stammt vom Angriff der Russen auf diesen Hügel im Mai vor einem Jahr.»

In der linken Augenhöhle des Schädels steckt ein dünner Ast. Er war schon aus dem Erdhügel herausgeragt, bevor dieser abgetragen wurde. Das ist ein Indiz, dass Russen den Gefallenen hastig verscharrt und die Leiche auf diese Art malträtiert haben. Die ukrainischen Kameraden des Toten hätten ihm wohl kaum etwas ins Auge gestossen.

Das Kennzeichen der Luftlandetruppen

Inzwischen haben die anderen Helfer ein Abzeichen in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb an der Uniform gefunden; ausserdem ein Kennzeichen der 81. Luftlandebrigade. Alle Informationen werden fein säuberlich mit einem Filzstift auf einer weissen Tafel notiert. Nachdem die Leiche freigelegt ist, platzieren die Männer eine dicke Plastikfolie neben dem Grab und legen den Schädel und die restlichen Knochen mitsamt Uniformstücken und Gürtel vorsichtig darauf.

Sämtliche Beweisstücke kommen ebenfalls auf die Folie und werden mit Nummern markiert. Während sich die Helfer um die Bergung der Leiche kümmern, sucht Jukow die nähere Umgebung ab. Anstelle eines Wanderstocks hat er einen langen Stab aus dünnem, federndem Stahl dabei. Dieser hat einen dicken Holzgriff, und damit sticht der Chef der «Schwarzen Tulpe» den eisernen Stachel immer wieder tief in den Morast. Nach dem Herausziehen dreht er den Stab um und riecht an dessen Spitze. Der typische Leichengeruch könnte verraten, wo ein weiterer Toter begraben liegt. Doch Jukow wird nicht fündig.

Einer der Helfer filmt das Endstadium der Bergung von oben mit einer kleinen Drohne. Die Bilder werden später bei der forensischen Untersuchung im Leichenschauhaus von Slowjansk mithelfen, den Toten zu identifizieren. Dazu sei auch ein DNA-Abgleich geplant, meint Oleksij Jukow, der in Slowjansk und Umgebung inzwischen eine Legende ist. «Am Ende werden wir wissen, um wen es sich handelt, und die Angehörigen werden den Gefallenen bestatten können.» (aargauerzeitung.ch)

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4 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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butlerparker
07.05.2023 16:54registriert März 2022
Bewundernswert, was diese Menschen leisten. Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage wäre.
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MartinZH
07.05.2023 19:50registriert Mai 2019
Köppel könnte ja "als Journalist" auch einmal die «Schwarze Tulpe»-Leute begleiten, um "eine andere Sicht" zu zeigen, anstatt nur auf dem Roten Platz in Moskau herumzuschlendern. Es würde ihn vielleicht ein bisschen zum Nachdenken bringen... – Ob er den Mumm dazu hätte? Ich denke eher nicht.
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In vino veritas
07.05.2023 18:33registriert August 2018
Bei solchen Schilderungen kann ich die Rachegelüste der Ukrainer gut nachvollziehen. Wir sind dabei, alles mit Zahlen zu beschreiben und vergessen dabei, dass hinter jeder Zahl ein tragisches Schicksal steht.
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