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Ukraine: Experte zu Selenskyj und einer politischen Lösung für die Krim

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Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine (Archivbild): Er hat eine politische Lösung für die Krim ins Gespräch gebracht.Bild: keystone

«Die Russen werden die Krim nicht einfach übergeben»

Selenskyj hält eine politische Lösung zur Rückeroberung der Krim für möglich. Ein Militärexperte glaubt, die Halbinsel solle als «Faustpfand» dienen.
28.08.2023, 17:36
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Ein Artikel von
t-online

Bei der Ankündigung der ukrainischen Gegenoffensive hatte sich Wolodymyr Selenskyj grosse Ziele gesteckt: 2023 werde das «Jahr des Sieges», sagte der ukrainische Präsident zu Beginn des Jahres. Sämtliche von Russland besetzten ukrainischen Gebiete, einschliesslich der Krim, sollten militärisch zurückerobert werden. Russland hatte die ukrainische Halbinsel bereits im Jahr 2014 völkerrechtswidrig besetzt und annektiert. Seitdem galt sie als Prestigeobjekt des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Das Mantra Kiews lautete darum umso kräftiger: «Verhandlungen kann es erst geben, wenn das gesamte Territorium der Ukraine befreit ist, inklusive der Krim», sagt etwa der Selenskyj-Berater Michailo Podoljak im Herbst 2022 in einem Interview. Gespräche mit Moskau über einen möglichen Sonderstatus der Krim, wie sie kurz nach Beginn der russischen Invasion in Istanbul stattgefunden hatten, waren zuvor ergebnislos geblieben. Seitdem pochte Kiew auf die Maximalforderung, auch die Krim militärisch zurückzuholen.

Nun aber hat Selenskyj aufhorchen lassen: «Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, denke ich, kann man politisch die Demilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel erzwingen», sagte er am Sonntag in einem Interview mit einem ukrainischen Medium. Der ukrainische Staatschef hat damit vorsichtigere Worte gewählt als in den vergangenen Monaten. Statt einer militärischen Rückeroberung der Krim hat er eine diplomatische Lösung vorgeschlagen. Weicht er von seinem bisherigen Kurs ab?

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«Die Krim wird befreit», versprach Selenskyj der ukrainischen Bevölkerung. (Archivbild)Bild: keystone

Eine Erinnerung an den Westen?

Nein, sagt Militärexperte Gustav Gressel im Gespräch mit t-online. Zum einen habe sich Selenskyj Verhandlungen mit Russland nie verschliessen wollen, so Gressel. Womöglich habe er es nun noch einmal hervorgehoben, «um die Leute im Westen daran zu erinnern.» Kiew hatte Gespräche mit Moskau nie kategorisch ausgeschlossen.

Zum anderen sei es laut dem Militärexperten klar, dass es bei den Verhandlungen auch um die Krim gehen müsse. «Aber warum sollte die Ukraine mit Vorschlägen kommen, wenn doch die russische Seite sich keinen Millimeter bewegt?», so Gressel. Deswegen sei auch Selenskyj stets bei seiner Maximalforderung geblieben, also auf der Forderung nach dem Abzug aller russischen Truppen.

Bislang stehen sich beide Kriegsparteien unversöhnlich gegenüber. Der Kreml, dessen Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert waren, fordert die Ukraine hingegen etwa dazu auf, die Waffen niederzulegen, ihre Ambitionen zu einem Nato-Beitritt aufzugeben, Russisch als Staatssprache zu akzeptieren und die Krim als russisch anzuerkennen. Selenskyj hatte mögliche Gespräche unter diesen Bedingungen bislang abgelehnt.

ist Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmässig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa, insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Gustav Gressel
Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmässig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa, insbesondere mit den russischen Streitkräften.Bild: pd

«Die Krim soll als Faustpfand dienen»

Stattdessen versuchen die ukrainischen Streitkräfte, in ihrer Sommeroffensive im Süden und Osten des Landes besetzte Gebiete zurückzugewinnen und bis an das Asowsche Meer vorzudringen. Doch die Offensive läuft langsamer als erwartet; ob die Ukraine überhaupt in die Nähe der Krim kommt, ist fraglich.

Für die ukrainische Armee sei es schwierig, die Schwarzmeerhalbinsel in einem frontalen Angriff zurückzugewinnen, sagt der Militärexperte Gressel. Die Halbinsel diene Russland als Militärbasis, zudem gebe es nur wenige Zufahrtswege. «Natürlich weiss auch die Ukraine, dass die Russen die Krim nicht einfach so übergeben werden», sagt Gressel. Deswegen gebe es in Kiew die Idee, die Halbinsel zu blockieren – mit Angriffen auf Häfen, die Krim-Brücke und den Seeverkehr. «Die Krim soll unter Blockade kommen und dann als Faustpfand dienen», so Gressel.

Mithilfe von Raketenwerfern, etwa den amerikanischen Himars-Systemen, könnte die Ukraine die gesamte Fläche der Krim und somit Putins dort stationierte Streitmacht bedrohen. Putin und seine Generäle, so hofft Selenskyj offenbar, werde dann an den Verhandlungstisch zurückkehren, weil er sonst befürchte, die Krim, sein Prestigeobjekt, zu verlieren.

«Zunächst einmal muss Russland auf der Verliererstrasse sein»

Was mit diesem Faustpfand in den möglichen Verhandlungen dann letztendlich geschieht, ist unklar. Gressel glaubt, dass sich die Ukraine – in einem ersten Schritt – eine unabhängige Krim, die unter UN-Aufsicht entmilitarisiert werde, vorstellen könne. «Aber da gibt es auch in Kiew viele Gedankenspiele», sagt Gressel. So beschrieb der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, Olexij Danilow, zuletzt im April in einem «12-Punkte-Plan», was Kiew nach einer möglichen Befreiung der Krim mit der Halbinsel vorhat.

A freight train runs on rails of a railway link of the Crimean Bridge connecting Russian mainland and Crimean peninsula over the Kerch Strait not far from Kerch, Crimea, on Monday, July 17, 2023. An a ...
Die Krim-Brücke gilt als Prestigeobjekt des Kremls.Bild: keystone

Demnach würde die Ukraine die 18 Kilometer lange Krim-Brücke, und damit die Verbindung zum russischen Festland, abreissen. Auch würden die Beamten der Krim einer «Säuberung», nach dem Vorbild der Entnazifizierung Deutschlands zum Ende des Zweiten Weltkrieges, unterzogen werden. Der kontroverse Plan rief auch Kritik hervor (mehr zu dem 12-Punkte-Plan Danilows findest du hier).

Doch wann eines dieser möglichen Szenarien in die Realität umgesetzt werden könnte, ist noch vollkommen unklar. Die Krim ist noch immer unter russischer Besatzung – so wie andere ukrainische Gebiete, die die russische Armee im Zuge ihres Angriffskrieges erobert hat.

«Zunächst einmal muss Russland auf der Verliererstrasse sein, damit Putin überhaupt verhandeln möchte», so Gressel. Am Ende werde es auch darum gehen, ukrainische Menschenleben zu schonen. Womöglich hat sich Selenskyj auch deswegen nun für eine politische Lösung ausgesprochen.

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50 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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W4rd14l0r
28.08.2023 20:00registriert Oktober 2022
Die Ukraine hat es nicht mehr all zu weit - dann können sie den Landweg zur Krim abschneiden. Und die Brücke am anderen Ende ist schnell zerstört.

Und dann hat ruzzland ein noch viel größeres Problem: 2,35 Millionen Einwohner und die Besatzungsarmee sind auf eine Versorgung von außen angewiesen.

Bereits jetzt betteln die Orcs bei der Bevölkerung um Lebensmittel. Viele haben (bzw. hatten gestern) noch Rationen für genau 1 Tag. Einer der befehlshabenden Offiziere hat seinen Untergebenen Proviant versprochen - wenn sie die Stellung halten.

Lange läuft das so nicht mehr....
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Randy Orton
28.08.2023 20:45registriert April 2016
Der Westen könnte auch gemeinsamer und entschlossener auftreten und Putin deadlines setzen (muss man ja nicht offiziell ankündigen damit er sein Gesicht nicht verliert und kann gestaffelt laufen). Und ab einem gewissen Zeitpunkt liefert der Westen halt uneingeschränkt Marschflugkörper ohne Reichweitenbeschränkung, modernstes militärisches Gerät inkl Kriegsschiffen, U-Booten etc. dann kann sich Putin anschauen, wie seine Armee sehr rasch dezimiert wird.
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Cpt. Jeppesen
28.08.2023 21:28registriert Juni 2018
Wenn die Ukrainer bis Tokmak vorstossen, dann ist die Bahnlinie von Mariopol in die Krim unterbrochen und die Strassen liegen in Reichweite der ukrainischen Artillerie. Wenn dann noch die Brücke von Kertsch beschossen wird, dann ist die Krim komplett abgeschnitten. Danach ist es nur noch eine Frage der Zeit bis die Russen auf der Krim aufgeben müssen.
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