Letzten Donnerstag tauchten die ersten Berichte über geleakte Geheimdienst-Dokumente der US-Behörden auf. Während zuerst noch von einer Fälschung gesprochen wurde, vermeldete das US-Verteidigungsministerium relativ zügig, dass eine Untersuchung zum Leak eingeleitet worden sei. Dies kann darauf hindeuten, dass zumindest Teile der veröffentlichten Dokumente echt sind.
Die Inhalte sind brisant und decken ein breites Spektrum ab. Eines der Kernthemen ist der Ukraine-Krieg. Enthalten sind unter anderem Informationen zu US-Waffenlieferungen, Truppenstärke und Verluste beider Kriegsparteien sowie Standorte von Einheiten und Angaben zum Munitionsverbrauch.
Teile der Dokumente befassen sich aber auch mit anderen geopolitischen Problematiken. Wie das Investigativ-Netzwerk Bellingcat berichtete, sind zum Beispiel auch die Ansichten und Pläne Grossbritanniens und Informationen zu den Akteuren im Jemen-Krieg vermerkt.
Es kursieren jedoch Versionen oder Teile der Dokumente im Netz, die nachträglich verändert und zugunsten des Kremls aufgebessert wurden. So sind bei gewissen Versionen die russischen Opferzahlen ungemein tief, die ukrainischen im Gegenteil deutlich höher.
Die Washington Post will nun herausgefunden haben, dass es sich beim Leaker um einen Mann Anfang 20er handelt, der «auf einer Militärbasis arbeitet». Der Mann war «Anführer» einer Discord-Gruppe, die sich ursprünglich aus einer grösseren Gruppe von Waffen-Fans abgespaltet hatte, um in Ruhe diskutieren und zusammen sein zu können.
Die Gruppe, der der mutmassliche Leaker unter dem Pseudonym «OG» vorstand, war während der Corona-Pandemie 2020 als eine Art Zufluchtsort für (vorwiegend minderjährige, männliche) Gamer entstanden. Dies erklärt ein Mitglied der Gruppe gegenüber der «Washington Post», der engen Kontakt zum mutmasslichen Täter pflegte.
Der Servername, «Thug Shaker Central» (eine rassistische Anspielung), ist dabei bezeichnend: In den verschiedenen Kanälen wurden Memes und offensive (teils rassistische) Witze geteilt, man schaute gemeinsam Filme und habe auch miteinander gebetet, sagt das minderjährige Mitglied. Es sei aber kein «faschistischer Rekrutierungs-Server» gewesen.
Der Minderjährige bezeichnet OG als seinen «besten Freund», «wie ein Onkel» oder zu einem anderen Zeitpunkt gar als Vaterfigur. Die Gruppe, aber vor allem OG, habe ihm durch depressive Phasen geholfen und ihn emotional aufrechterhalten. Man sei auf dem Server wie eine eng verknüpfte Familie gewesen. Aus dem Interview geht die Bewunderung des Mitglieds für den mutmasslichen Leaker hervor:
OG sei aber auch strikt gewesen: Er habe eine Art «Hackordnung» festgelegt und sei wütend geworden, wenn man seinen Forderungen nicht nachgekommen sei.
In einem Video, das laut dem Mitglied OG zeigen soll, und das der «Washington Post» vorliegt, sieht man den vermeintlichen Leaker in einem Schiessstand. Mit Gewehr, Schutzbrille und Pamir gibt er eine Reihe rassistischer und antisemitischer Ausrufe von sich, und feuert anschliessend auf die Ziele.
2022 postet OG zum ersten Mal geheime Inhalte auf dem Server. Zuerst habe er die Dokumente noch in mühseliger Arbeit in den Chat abgetippt, berichtet sein minderjähriger Bekannter. In regulären Abständen seien weitere solcher Nachrichten über Monate hinweg auf dem Server gepostet worden. OG selber schrieb dazu, dass er die Informationen von seinem «Job auf einer Militärbasis» mit nach Hause genommen habe.
Doch die meisten der rund 25 Mitglieder hätten nicht verstanden, was sie vor sich hatten, oder es hätte sie schlichtweg nicht interessiert, so das Mitglied. OG sei wütend geworden, als seine Beiträge nicht mehr auf Aufmerksamkeit stiessen; schliesslich verbrachte er täglich Stunden mit dem Abtippen und Erklären des Fachjargons. Also änderte er seine Strategie und postete direkt Bilder der Dokumente. Doch was trieb ihn überhaupt dazu?
OG sei aber auf keinen Fall ein Whistleblower, betont das Mitglied. Er habe bloss seine Freunde «auf dem neusten Stand halten» wollen. Auch sei er definitiv weder ein russischer noch ein ukrainischer Spion.
Der Kanal, in dem OG die Dokumente gepostet hat, trägt den Namen «Bear vs Pig», zu Deutsch: «Bär gegen Schwein». Eine Umschreibung des Ukraine-Konflikts, die darauf hinweisen soll, dass OG sich zu keiner der beiden Kriegsparteien bekennt.
Schlussendlich wollte der mutmassliche Täter auch nur ein bisschen angeben, vermutet das Mitglied:
Es sei einfach eine Mischung aus Prahlerei unter Freunden und dem Verlangen, die Gruppe zu schützen, gewesen. Tatsächlich hatte OG ein schlechtes Bild der Regierung. Laut dem Mitglied hatte er mehrfach von den USA und den Sicherheitskräften insbesondere als «düstere Kräfte» gesprochen, die ihre Bürger unterdrückten und im Dunkeln hielten. Die Rede sei auch von «government overreach», also vom Überschreiten gesetzlicher Grenzen durch die Behörden, gewesen.
So behauptete er, die Regierung habe im Vorfeld des Buffalo-Massakers im Mai 2022 gewusst, dass ein «white supremacist» einen Massenmord plane. Man habe die Tragödie aber bewusst zugelassen, um anschliessend für erhöhte Sicherheitsausgaben plädieren zu können. Bewiesen hatte OG seine Behauptung nicht. Aber bei dem jungen Mitglied habe sie einen Eindruck in die tiefen Einsichten des potenziellen Täters in die behördliche Korruption hinterlassen.
OG sei aber trotzdem nicht feindselig gegenüber der eigenen Regierung gewesen.
Wären die Dokumente auf dem Server und in der Gruppe (zu der auch Mitglieder aus Russland, der Ukraine und Ostasien gehören) geblieben, hätte OG vielleicht nie Probleme bekommen.
Allerdings postete ein anderer, ebenfalls minderjähriger Nutzer des «Thug Shaker Central»-Servers Ende Februar mehrere der Dokumente auf einem fremden Server. Eine gute Woche später tauchten sie auf einem weiteren Server auf, und Anfang April geisterten die Dokumente über Telegram auf die Platform 4chan und von dort aus auf Twitter.
Am 5. April, kurz bevor die «New York Times» als erstes grosses Medium über die Leaks berichtete, sei OG, für ihn atypisch, panisch auf seinem Server erschienen: «Er sagte, es sei etwas geschehen, von dem er zu Gott gebetet hatte, dass es nicht geschehe ... Aber nun liege es in Gottes Händen», erinnert sich das Mitglied.
OG sei sich vollumfänglich bewusst, was gerade geschehe und was die Konsequenzen für ihn bedeuten könnten. Er wirkte «ziemlich verzweifelt.» Schliesslich waren die Dokumente nie für die Öffentlichkeit, sondern bloss für seine kleine Discord-«Familie» gedacht gewesen.
In der Tat ist der mutmassliche Leaker mit der Veröffentlichung der Fotos der Dokumente ein grosses Risiko eingegangen: Auf den Bildern sind nämlich kleine Details aus seinem Alltag zu erkennen. Ein Leimstift, eine Nagelschere, Bettwäsche oder Handbücher – alles Objekte, die den Ermittlern Hinweise auf seine Identität geben könnten.
Zudem führten Drucker in abgesicherten US-Einrichtungen Protokolle der Ausdrucke, und manche der Unterlagen hätten unsichtbare Markierungen, um sie nachverfolgen zu können. Dies berichtet das «Wall Street Journal» am Donnerstag. Die Zeitung machte allerdings auf einen anderen Punkt aufmerksam: Die Erzählung rund um Discord könne auch das Manöver eines raffinierten Gegners sein, um die Ermittler auf eine falsche Fährte zu lenken, schrieb das Blatt unter Berufung auf frühere Verteidigungsbeamte.
Das Mitglied, welches mit Einverständnis seiner Mutter der «Washington Post» Auskunft gab, kennt den wahren Namen und den Wohnort von OG. Er werde aber nichts davon mit den Ermittlern teilen.
(Ergänzt mit Material der SDA)
Bin jetzt echt etwas enttäuscht.
Ich habe einen einigermaßen gutaussehnden US-Russischen Doppelagenten erwartet, welcher in einer aufwändigen und riskanten Mission (inklusive Sex&Crime) an die Daten gelangt ist.