Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde niemand ausgelacht, der ernsthaft das Ende des Nationalstaates prophezeite. Führende Köpfe aus der Welt der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft diskutierten beispielsweise über ein «Europa der Regionen», oder sie rätselten, wann die letzten Zoll- und andere Schranken fallen würden. Angesichts der unaufhaltsamen Globalisierung der Wirtschaft schien das Schicksal der Nation das gleiche zu sein, wie dasjenige der Dinosaurier vor rund 60 Millionen Jahren: Sie war zum Aussterben verdammt.
Der Kollaps der Sowjetunion war nicht nur das Ende des Kalten Krieges, er war auch der Beginn einer neuen Ära. George H. W. Bush, der damalige US-Präsident, sprach von einer neuen Weltordnung, und was er damit gemeint hat, fasst David Brooks in seiner Kolumne der «New York Times» wie folgt zusammen:
Wer heute noch vor einer grenzenlosen, toleranten Multikulti-Welt spricht, muss sich Fragen nach seiner geistigen Gesundheit gefallen lassen. Von einem neuen Kalten Krieg ist jetzt die Rede und davon, dass die Welt in zwei oder drei Machtblöcke zerfallen wird. Machtblöcke, die sich hermetisch gegen aussen abschirmen und sich gegenseitig misstrauisch beäugen. Eine dystopische Welt also, wie sie George Orwell bereits in seinem Roman «1984» beschrieben hat.
Ansätze dieser Entwicklung sind unübersehbar. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den USA und China ist zu einer politischen Feindschaft der beiden Supermächte geworden. Putins Krieg wird, unabhängig vom Ausgang, zu einer erneuten und wahrscheinlich lang dauernden Isolierung Russlands führen. Orwells Vision droht, Wirklichkeit zu werden. Ist somit auch eine Deglobalisierung unausweichlich geworden?
Nun, bis zu einem gewissen Grad. Rein wirtschaftlich gesehen ist Deglobalisierung vorläufig noch Geschwätz. Die Coronakrise hat zwar die weltweiten Lieferketten unterbrochen. Der Welthandel hat sich jedoch rasch erholt, ja, er befindet sich bereits wieder auf einem neuen Höchststand. Das zumindest meldet das Central Planing Bureau der Niederlande, eine respektierte Autorität auf diesem Gebiet.
Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Zu verflochten ist die Weltwirtschaft inzwischen geworden. Das zeigt etwa das Beispiel der deutschen Autoindustrie, das Herz der deutschen Volkswirtschaft. Sie ist auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, gleichzeitig mit China und den USA Geschäfte machen zu können. So schreiben Simon Hage und Martin Hesse in ihrem soeben erschienen Buch «Aufholjagd»:
Nicht nur die deutsche, die gesamte Autoindustrie befindet sich in dieser Zwickmühle, aus der es kurzfristig keinen Ausweg gibt. Und vergessen wir nicht: Die Autoindustrie ist nach wie vor die bedeutendste der Welt.
Wirtschaftlich dürfte die Deglobalisierung daher bis auf Weiteres ein Schlagwort ohne Inhalt bleiben. Politisch hingegen sieht es anders aus. Die Vorstellung, wonach die wirtschaftliche Globalisierung mit wachsendem Wohlstand quasi automatisch zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung führen werde, hat sich als Illusion erwiesen. Vielmehr haben sich im Zuge dieser Globalisierung die Wohlstandsunterschiede drastisch verschärft, und zwar innerhalb und zwischen den einzelnen Ländern.
Die Folgen sind ein Hass auf eine globalisierte Elite in den entwickelten und Verachtung für die liberale Weltordnung in den Schwellenländern. Demokratie und Rechtsstaat sind keineswegs mehr das Mass aller Dinge. So rechnet etwa der Publizist Parag Khanna mit dem Westen gnadenlos ab. Der Osten sei dem Westen nicht nur punkto Einwohner weit überlegen, er sei es auch moralisch und politisch, lautet die Kernbotschaft seines Bestsellers «Unsere asiatische Zukunft.»
«Die Globalisierung ist vorbei. Die Kulturkriege haben begonnen» betitelt David Brooks seine Kolumne in der «New York Times». Wo er recht hat, hat er recht. Auf dem Gebiet der Kultur findet tatsächlich eine Deglobalisierung statt.
Als Zeuge seiner Anklage führt Brooks Joseph Henrich an, einen Professor für Anthropologie und Ökonomie an der Harvard University. Dieser hat ein bedeutendes Buch mit dem Titel «Weird» verfasst. «Weird» ist der englische Begriff für «seltsam».
Henrich benutzt diesen Begriff jedoch auch als Abkürzung für: W(estern), E(ducated), I(ndustrialized), R(ich) and D(emocratic). Damit will er ausdrücken, dass wir im Westen keineswegs die Spitze der Entwicklung der Menschheit darstellen, sondern eine Ausnahme. Nur im Westen hat eine Entwicklung stattgefunden, die zu einer liberalen Ordnung und universellen Menschenrechten geführt hat. Diese Entwicklung hat Jahrhunderte, ja gar Jahrtausende gedauert und lässt sich daher nicht oder nur sehr langsam auf andere Kulturen übertragen.
Für die meisten Menschen ausserhalb des Westens sind wir daher «seltsam» geworden. Sie können unsere Besessenheit mit unserer Individualität nicht nachvollziehen. Wir erscheinen als materialistische Egoisten oder Spinner, welche sich mit so absurden Dingen wie mit den Rechten für die LGBTQ-Gemeinde herumschlagen.
Putins Krieg ist zu einer Nagelprobe geworden, zu einem Test, wie weit der Westen bereit ist, seine «seltsamen» Werte zu verteidigen. Sind wir tatsächlich zu materialistischen Egoisten verkommen? Oder haben Begriffe wie Freiheit des Individuums, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz und Menschenrechte noch einen Inhalt?
Die Globalisierung hätte all dies liefern können, aber der Neoliberalismus (der NICHT etwas Westliches ist, sogar China gehört dazu) zieht alle Profite weg und gibt sie an die kleine Klasse der Superreichen zurück.
Das ist unser Problem, ganz einfach. Die Menschen der Welt müssen die Propaganda und die Gehirnwäsche durchschauen und erkennen, dass es eine sehr kleine Gruppe von Menschen ist, die den einfachen Dingen im Weg steht, die wir alle wollen und brauchen und auf die wir ein Recht haben.