Nach dem Debakel in Afghanistan stellt sich einmal mehr die Frage: Warum sind nicht alle Staaten demokratisch? Es ist doch offensichtlich, dass jede Stimme gleich viel zählen muss und dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Trotzdem haben es in der Geschichte nur wenige Gesellschaften geschafft, eine auf demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien gründende Nation zu errichten. Weshalb?
In seinem Buch «The WEIRDest People in the World» erteilt Joseph Henrich eine Antwort auf diese Frage. Henrich ist Ökonom und Anthropologe an der Harvard University.
Der etwas seltsame Titel seines Buches erklärt sich wie folgt: «Weird» ist ein englisches Wort für «seltsam». Die Abkürzung WEIRD verwendet Henrich jedoch auch für: Western (westlich), Educated (gebildet), Industrialized (industrialisiert), Rich (reich) und Democratic (demokratisch). Seltsam ist dies, weil diese Kombination nur den westlichen Gesellschaften gelungen ist – über die Jahrtausende gesehen einem winzigen Teil der Menschheit.
Nur der Westen hat es geschafft, die Macht der Clans zu brechen. Dabei spielt das Verbot der Cousinen-Heirat eine entscheidende Rolle. Dieses Verbot durchzusetzen hat die katholische Kirche seit ihrer Existenz versucht, nicht immer mit Erfolg, wie etwa die Mafia in Süditalien nach wie vor beweist.
Wie genau die katholische Kirche dies geschafft hat, kann hier nicht erläutert werden. Entscheidend ist jedoch, dass sie es geschafft hat, denn die Cousinen-Heirat führt zur Vetternwirtschaft und Korruption, ausser in archaischen Stammesgesellschaften, in denen es keinen Reichtum und daher auch keine Korruption gibt.
Die Entstehung der Kleinfamilie, wie wir sie kennen, hat sich über Jahrtausende hinweggezogen. Gemäss Henrich hat dies nicht nur die Struktur der Gesellschaft, sondern auch das menschliche Gehirn verändert. Er schreibt:
Kurzer, aber wichtiger Einschub: Henrich argumentiert nicht rassistisch, es gibt weder ein weisses Gen noch weisse Überlegenheit. Henrich wertet auch nicht. Der Westen ist nicht besser, er ist nur seltsam.
Henrichs These hilft uns jedoch, die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Warum sind Demokratie und Rechtsstaat nicht selbstverständlich? Und sie steht im Einklang mit der zutreffenden Feststellung, die der Politologe Michael Mandelbaum heute in der «New York Times» macht: «Einmal mehr können wir von Afghanistan lernen, dass Amerika in der Lage ist, schlimme Dinge im Ausland zu verhindern, dass es jedoch nicht fähig ist, gute Dinge zu bewerkstelligen.»
Das gilt nicht immer. Nach dem Zweiten Weltkrieg halfen die USA mit dem Marshall-Plan dem zerstörten Europa wieder auf die Beine. Das gelang mit relativ wenig Geld und erstaunlich rasch. Das ehemals faschistische Deutschland verwandelte sich beinahe über Nacht in einen demokratischen Musterstaat. Die kulturellen Voraussetzungen – und gemäss Henrich auch die Voraussetzungen in den deutschen Köpfen – waren dafür vorhanden.
Nicht so in Afghanistan. Der mehr als 20 Jahre lang dauernde Krieg hat die USA rund zwei Billionen Dollar gekostet. Es war eine gigantische Geldverschwendung. Mehr noch: Es war kontraproduktiv. Weil die Macht der Clans ungebrochen blieb, floss das Geld zu einem guten Teil in die Taschen einer heillos korrupten Elite.
Demokratie blieb allen gut gemeinten Bemühungen zum Trotz ein Lippenbekenntnis. An den Wahlen 2019 nahmen gerade mal 1,8 Millionen Menschen teil, und dies bei einer Bevölkerung von 39 Millionen.
Auch die Milliarden, die für die Militärhilfe aufgebracht wurden, waren für die Katz. Die kümmerlich ausgerüsteten Taliban haben innert Tagen die mit modernsten Waffen versehene afghanische Armee besiegen können, weil die Soldaten nie ernsthaft daran gedacht haben, zu kämpfen. Nachdem US-Aussenminister Mike Pompeo im Februar 2020 zugesagt hatte, dass die US-Truppen innert Jahresfrist abziehen würden, begann die Taliban-Führung mit den afghanischen Militärs einen Deal abzuschliessen: Wenn ihr nicht kämpft, verschonen wir euch.
Die von der korrupten Elite angewiderten Soldaten hielten sich an den Deal. Die Taliban konnten in Kabul einmarschieren, ohne einen Schuss abzufeuern – ausser Freudensalven natürlich.
Diesen Tatbestand hat Präsident Biden in seiner gestrigen Ansprache auf den Punkt gebracht. «Wir gaben ihnen jedes Werkzeug, das sie brauchten. Wir zahlten ihre Löhne. Wir hielten ihre Flugzeuge in Schwung», erklärte er. «Wir haben ihnen jede Chance eröffnet, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Was wir ihnen nicht geben konnten, war der Wille, für diese Zukunft zu kämpfen.»
Selbst nach dem Chaos in Kabul ist Biden daher überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben: «Die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass es richtig war, das Engagement der US-Truppen in Afghanistan zu beenden.»
Anders als sein Vorgänger ist Biden auch bereit, Fehler einzugestehen. Er gibt zu, dass er nicht mit einem so raschen Kollaps gerechnet hat und ist bereit, dafür Verantwortung zu übernehmen. Er tut dies nicht nur, weil er ein anständiger Mensch ist, sondern auch im Wissen, dass sich der politische Schaden an der Heimatfront in Grenzen hält. Mehr als 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner befürworten den Abzug aus Afghanistan, fast die Hälfte von ihnen hält den Krieg mittlerweile für einen Fehler.
Amerikaner vergessen schnell. Die Schmach von Saigon im Jahr 1975 war innert Monaten kein Thema mehr. An den Zwischenwahlen im November 2022 dürfte dies auch für Afghanistan der Fall sein, zumal die empörten Proteste der Republikaner mehr als scheinheilig sind. Bereits Ex-Präsident Donald Trump hatte die Anzahl der Soldaten von 15’000 auf 2500 reduziert, und er hatte den Taliban gar versprochen, den Rest bis zum 1. Mai abzuziehen.
Dass nun die Biden-Kritiker behaupten, diese 2500 Soldaten hätten die Afghaner noch lange beschützen können, ist absurd. Die Taliban haben sich mit Angriffen auf die Amerikaner zurückgehalten, weil sie deren Rückzug nicht gefährden wollten. Gegenüber allen anderen haben sie ihre Angriffe in den letzten Jahren stetig verstärkt.
Die meisten Amerikaner finden Afghanistan nicht auf einer Weltkarte. Für die Biden-Regierung stellte sich deshalb auch die Gretchenfrage: Wie lange sind amerikanische Mütter noch bereit, ihre Söhne in einen Krieg zu schicken, um afghanische Frauen zu schützen?
Das bedeutet leider auch, dass die afghanischen Frauen die grossen Verlierer sind. Es wird zwar spekuliert, dass die Taliban von heute nicht mehr vergleichbar sind mit den Taliban der Neunzigerjahre. Vielleicht. Tatsächlich halten sie sich bisher zurück, vor allem in Kabul.
Doch die Taliban sind Gotteskämpfer. Ihr Sieg über die Supermacht USA wird sie in ihrem fanatischen Glauben bestärken, dass Allah sie beschützt und sie in ihrem Willen bestätigen, dass sie einen Gottesstaat mit all seinen Scheusslichkeiten errichten müssen. Genaueres wissen wir wohl erst, wenn der letzte US-Soldat Afghanistan verlassen hat.
Der Westen und die USA stehen daher in der Pflicht, alles nur Mögliche zu unternehmen, um den afghanischen Frauen zu helfen. Illusionen sollten wir uns jedoch nicht machen. Wie Fareed Zakaria heute in der «Washington Post» berechtigterweise feststellt: «Die nackte Wahrheit lautet: Es gibt keinen eleganten Weg, einen Krieg zu verlieren.»
auch Watson: Trotz allem: Joe Biden hatte recht
Wow...
Aber, danke Herr Löpfe. Ich stimme Ihnen zu.