Notenbanker drücken sich in der Öffentlichkeit in der Regel – milde ausgedrückt – unterkühlt aus. Meist sagen sie ausser ein paar Leerformeln gar nichts. Umso mehr lässt aufhorchen, was John Williams, der Präsident der Federal Reserve Bank of New York, gestern gegenüber Reportern geäussert hat: Es bestehe die Gefahr, dass die «Investoren extrem nervös» werden und dass eine «extreme Reaktion der Märkte» drohe.
Die Fed von New York ist die wichtigste Zweigstelle der US-Notenbank und zuständig für die Finanzmärkte. Williams macht sich vor allem Sorgen wegen des Obligationenmarkts. Dort werden die Treasury Bonds (T-Bonds), die Staatsschulden der USA, gehandelt. Die T-Bonds sind das Rückenmark der globalen Finanzmärkte. Bricht dort Chaos aus, bekommen das im Handumdrehen alle anderen Märkte zu spüren. «Sollte es tatsächlich dazu kommen, dass die Regierung ihre Schulden nicht mehr bezahlen kann, wird das eine Dynamik in Gang setzen, die nicht nur in den USA, sondern rund um den Globus verspürt werden wird», warnt Williams.
Williams ist kein einsamer Rufer in der Wüste. Janet Yellen, die ehemalige Präsidentin der Fed und aktuelle US-Finanzministerin, schlägt gleiche Töne an. Sie fleht die Senatoren an, die Schuldenobergrenze anzuheben, ansonsten seien «katastrophale Ereignisse für die Wirtschaft zu befürchten». Jay Powell, der aktuelle Fed-Präsident, hat schon letzte Woche vor «schweren Schäden» gewarnt.
Worum geht es? In den USA gibt es ein längst veraltetes Gesetz aus dem Jahr 1917, das dem Kongress die Kompetenz gibt, bereits getätigte Ausgaben der Regierung abzusegnen. Das Gesetz wurde einst eingeführt, um die Isolationisten, die ein weiteres Engagement der USA im Ersten Weltkrieg befürchteten, zu beruhigen.
Das Anheben der Schuldenobergrenze wurde bald zu einem Akt, den der Kongress routinemässig abspulte. Dieses Jahr ist es anders. Mitch McConnell, der Minderheitsführer im Senat, hat ihn zu einer riskanten Mutprobe empor stilisiert. Er verweigert die Zustimmung, und dank des Filibusters – einem ebenfalls überholten Gesetz – kann er sich auch durchsetzen.
Das Abgeordnetenhaus hat die Schuldenobergrenze bereits angehoben. Blockiert der Senat weiterhin, dann werden die Warnrufe von Yellen & Co. schon in ein paar Tagen bittere Realität. Nicht nur auf den Finanzmärkten wird dann die Hölle ausbrechen. Auch Unternehmen und Konsumenten werden die Folgen sehr rasch zu spüren bekommen, sei es mit steigenden Zinsen oder Entlassungen. Selbst eine Rezession wird dann möglich.
All dies ist vollkommen unnötig. Die USA schiessen sich selbst ins Bein. Jon Tester, ein bodenständiger demokratischer Senator aus dem Bundesstaat Montana, sagt denn auch kopfschüttelnd: «Mir kommt nicht einmal etwas so Dummes in den Sinn, das ich auf meiner Farm anstellen könnte.»
Mitch McConnell will mit seinem Manöver die Demokraten blamieren. «Wir werden auf keinen Fall den Demokraten helfen, die Schuldenobergrenze anzuheben», erklärt er. «Denn sie werden dann sofort ein sozialistisches Ausgaben-Saufgelage inszenieren, das den amerikanischen Familien schadet und China hilft.»
Das ist in doppelter Hinsicht Unsinn: Erstens werden mit dem Anheben der Schuldenobergrenze Ausgaben der Vergangenheit bezahlt, denen im Übrigen auch die Republikaner zugestimmt haben. Und zweitens, wenn den Chinesen etwas hilft, dann ein Chaos auf den westlichen Finanzmärkten.
Die Weigerung der republikanischen Senatoren – sie haben gestern geschlossen gegen die Anhebung gestimmt – ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Grand Old Party sich in eine politische Abrissbirne verwandelt hat. Die Republikaner geben sich nicht einmal mehr Mühe, den Anschein zu erwecken, sinnvolle Politik zu betreiben.
In Washington sind gefährliche Tage für die Demokratie angebrochen. Auch die Demokraten sind in einen bitteren internen Kampf verwickelt. Es geht um das Infrastrukturprogramm, dem Herzstück der Biden-Regierung. Dessen Schicksal wird sich in den kommenden Stunden entscheiden – und es steht auf Messers Schneide.
Das Infrastrukturprogramm besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, in dem es vor allem um Strassen und Brücken geht, ist bereits vom Senat verabschiedet worden. Es besteht jedoch eine Abmachung innerhalb der demokratischen Partei, dass das Abgeordnetenhaus diesen Teil nur dann verabschieden wird, wenn der Senat auch dem anderen Teil zugestimmt hat.
Dieser zweite, weit umfassendere Teil ist für den progressiven Flügel das, was der Lateiner eine Conditio sine qua non nennt. Will heissen, sie werden auf keinen Fall nachgeben. Darin werden nämlich die Dinge behandelt, die den Progressiven besonders am Herzen liegen. Es geht um Massnahmen gegen den Klimawandel, Hochgeschwindigkeitszüge, Steuerrückvergütungen für die Ärmsten, Gratis-Kitas und -Hochschulen und Steuererhöhungen für Superreiche und Unternehmen.
Obwohl diese Massnahmen von der Mehrheit der Amerikaner begrüsst werden, stemmen sich zwei demokratischen Senatoren dagegen. Joe Manchin und Kyrsten Sinema wollen bloss den ersten Teil verabschieden und den zweiten verschieben. Auf den Sankt Nimmerleinstag, vermuten die Progressiven zu Recht. Deshalb schalten sie ebenfalls auf stur: Nur wenn das gesamte Paket vorliegt, werden sie auch dem ersten Teil zustimmen.
Gleich zwei hochriskante Mutproben sind derzeit im Gang. Beide haben potenziell gravierende Folgen. All dies erinnert fatal an die Weimarer Republik, den politischen Verhältnissen in Deutschland zu Beginn der Dreissigerjahren. Auch damals löste sich die Politik im Chaos auf. Kein Wunder, spricht der renommierte Historiker Jon Meacham von einem Stresstest für die amerikanische Demokratie.
sozialistisches Ausgaben-Saufgelage?
Klingt geil. Wo kann man sich anmelden?