Das denkt John Waters um 7.30 Uhr: «Die ärmsten Schweine sind Leute, die nach einem Sex-Change merken, oh Shit, ich hab einen Fehler gemacht!»
Der Dandy of Darkness mit den perversen Fantasien ist in seiner Freizeit Priester. Bald kommt er für seine Live-Show nach Zürich. Und ist schon jetzt im Kunsthaus zu geniessen.
Guten Morgen, Herr Waters! Wo genau erreiche ich Sie? Ich bin in Provincetown, an der äussersten Spitze von Cape Cod, ich habe da den ganzen Sommer verbracht. Es ist 7.30 Uhr, und ich trinke gerade eine Tasse Tee.
Ein bisschen früh für ein Interview. Ich will ab 8 Uhr schreiben. Gut, heute wird es 8.15 Uhr, weil wir jetzt miteinander reden. Da verschiebt sich einiges nach hinten.
Tut mir leid. Ist Provincetown noch immer das Homo-Ferien-Mekka von Amerika? Absolut. Ich habe hier zum 51. Mal meinen Sommer verbracht. Es ist alles noch genau gleich. Wobei früher nicht alle homosexuell waren. Früher galt Provincetown ja als Künstlerkolonie. Alle Pop-Artists waren homo-, alle abstrakten Expressionisten heterosexuell. Ich habe damals in der Buchhandlung gearbeitet. Jetzt ist der Buchhändler gestorben! Er war 95. Wahrscheinlich stehen in dem Laden noch immer ein paar Bücher, die ich nicht verkauft habe.
Ihre eigenen Bücher verkaufen sich ja bestens. Ja, auch, weil ich will, dass sie in den Buchhandlungen zuvorderst liegen! Im Schaufenster! Nicht unter «gay and lesbian literature» und erst recht nicht unter «Humor»! «Humor» ist die schlimmste Kategorie, die's gibt! Die ist immer im allerhintersten Winkel einer Buchhandlung.
Das sind doch die Bücher, die man sich kauft, um sie neben die Toilette zu legen ... Grauenhaft! Ich verachte Menschen mit Toiletten-Literatur. Die glauben tatsächlich, ihre Gäste seien nicht gebildet genug. Deshalb legen sie ihnen noch etwas Geistreiches hin. Ich geh doch nicht zu einer Dinner-Party, wenn ich nicht gebildet bin.
Zu den Menschen, die Sie nicht verachten, gehören Schweizer. Ich mag die Schweizer, weil sie wissen, wie man reich ist. Sie kaufen keine Sportwagen, sie kaufen Kunst.
Gut, aber Sie können jetzt nicht von den paar reichen Schweizern auf alle schliessen. Ach, ich kenne viele andere! Mein Zürcher Freund und Sammler This Brunner und ich gingen früher in viele seltsame Bars, und ich erinnere mich, wie wir durch den Junkie-Park spazierten, als es den noch gab. Das war wie «Night of the Living Dead», so viele Leute! Und ich realisierte, dass es vielleicht doch keine gute Idee ist, Heroin zu legalisieren. Ich dachte, wenn ich jetzt fünfzehn Jahre alt und ein kryptoschwuler Jazz-Musiker mit einer Identitätskrise wäre, würde ich mich schon fragen, ob das nicht ein schöner, alternativer Lifestyle sein könnte. Im Stil von: Was soll ich werden? Gott? Ein Hippie? Ach, vielleicht werd ich doch lieber ein Junkie, die sind alle so nett zu mir, und ich kann in einem Park leben.
Aha, Jazz-Musiker sind besonders gefährdet? Keine Ahnung wieso, wahrscheinlich wegen John Coltrane (der experimentierte mit Heroin, Anm. d. Red.).
John Waters
Der Mann, der in Amerika liebevoll «The People's Pervert» genannt wird, kam 1946 in Baltimore zur Welt, wo er – neben New York, San Francisco und Provincetown – auch heute noch lebt. Er arbeitet als Filmemacher («Pink Flamingos», «Polyester» «Hairspray», «Serial Mom», «Cry-Baby»), bildender Künstler und Autor. «Pink Flamingos» mit dem Transvestiten Divine in der Hauptrolle steht im Kanton Zürich seit 1974 wegen Pornografie auf dem Index.
John Waters versteht es, die amerikanische Populärkultur in ein trashiges Glamourama zu verwandeln. Voller Monster, Slogans, Sex und Witz. Gut vierzig seiner Bilder, Collagen und Skulpturen und einige seiner Videos aus der Sammlung von This Brunner sind bis zum 1. November im Kunsthaus Zürich zu sehen. Am 23. September findet im Kunsthaus seine One-Man-Show «This Filthy World» statt. Der Vorverkauf startet am 5. September. Ab 5. Oktober zeigt das Zürcher Filmpodium die bisher grösste John-Waters-Retrospektive der Schweiz.
Sie kennen ja nicht nur Zürich, sie kennen auch Gstaad. Also der Ort, wo extrem viele reiche Leute sind. Ich habe dort oft mit This Neujahr verbracht. Grossartig. Gstaad ist das exakte Gegenteil von meiner Heimatstadt Baltimore.
Baltimore hat ja was Magisches für uns: Baltimore ist die Stadt, in der Sie aufgewachsen sind und «Pink Flamingos» und «Hairspray» gedreht haben, Baltimore ist aber auch die Stadt aus der Drogen-Kriminalitäts-Serie «The Wire». Ist Baltimore so subversiv, dreckig und destruktiv, wie wir uns das vorstellen? Und wir haben das Grab von Edgar Allen Poe! Wir haben aber auch schöne Strandhäuser und viele grosse Musiker. Ja, Baltimore ist eine extreme Stadt. Und es ist vor allem eine billige Stadt. Es ist fast die letzte Stadt an der Ostküste, wo man es sich noch leisten kann, ein Bohemien zu sein. Die Antistadt zu New York. Ich habe extreme Orte schon immer geliebt. Gstaad ist auf seine Art ebenso extrem wie Baltimore. In der Mitte habe ich mich noch nie wohl gefühlt.
Sie gelten seit Jahrzehnten als «Pope of Trash». In den Sechzigern war das noch avantgardistische Konzeptkunst. Heute ist Trash Mainstream. Reality TV ist Trash. Die Kardashians sind Trash. Guter Trash verändert deine Wahrnehmung. Guter Trash ist witzig. Die Kardashians sind nicht witzig. Ich will auch gar nicht wissen, wer die sind!
Sie sind die Addams Family unserer Tage. Die Addams Family hatte Stil, die war smart, die kreierte einen eigenen Look! Wer will schon aussehen wie Kim Kardashian! Ich mein, die sind jetzt nicht meine Feinde, und ich denke, für viele Menschen ist das, was Caitlyn Jenner tut, wirklich wichtig. Der Grund dafür, dass jetzt niemand ihre Reality-Show «I Am Cait» schaut, ist, weil sie nicht schlecht genug ist. Das Ding ist zu geschmackvoll! Eine Hit-Show muss ihre Protagonisten so richtig ausbeuten, Caitlyn lässt sich nicht ausbeuten.
Aber Sie sind kein Fan von Caitlyn. Es ist einfach, stark zu sein, wenn du reich bist und republikanisch und von Annie Leibovitz schön für die «Vanity Fair» fotografiert wirst. Für mich ist die Whistleblowerin Chelsea Manning die grosse Heldin. Und es ist umso tragischer, dass ihre Gefängnisstrafe jetzt verlängert wurde, bloss weil sie die «Vanity Fair» mit der Caitlyn-Story gelesen hat. Logisch wollte sie das lesen! Und Chelsea hat nicht die Genugtuung, dass sie von Annie Leibovitz fotografiert wird. Es gibt bloss ein einziges Bild von ihr und das ist unvorteilhaft. Ich finde, die Regierung schuldet Chelsea ein Fotoshooting in der Höhe eines «Vanity Fair»-Shootings mit Annie Leibovitz, inklusive Nachbearbeitung und alles.
Caitlyn Jenner, inszeniert von Annie Leibovitz.Bild: AP/Vanity Fair
Zufalls-Schnappschuss von Chelsea Manning.Bild: AP/U.S. Army
Stimmt es, dass Sie Fotoshop als Alternative zu Schönheits-Operationen betrachten? Wenn mich ein Magazin fotografieren will, frage ich immer: Okay, welcher Fotograf hat das grösste Budget für die Postproduktion? Es ist so: Ich sammle zeitgenössische Kunst, aber ich will nicht in ihr vorkommen. Ich liebe Nan Goldins Fotos von ihren Junkie-Freunden, aber ich will nicht so aussehen. Ich frage mich, wie sich die Leute wohl fühlen, wenn sie die Bilder sehen.
Sie wollen schön sein wie jedes Mädchen. Und wie jedes echte Mädchen lieben Sie Maybelline-Kosmetik. Nur ein einziges Produkt! Den Velvet Maybelline Black Eyebrow Pencil. Damit male ich mir jeden Tag meinen Schnauz. Der Stift ist billig, aber billige Kosmetik funktioniert oft besser. Ich bettle schon seit Jahren, dass ich eine Werbung für sie drehen darf, aber sie wollen nicht. Sie schenken mir auch keine Produkte. Und während meiner Spoken-Word-Shows werfe ich immer ein paar Stifte ins Publikum. Vor Weihnachten muss ich Tonnen davon kaufen. Und ich krieg keinen Rabatt!
Neulich hielten Sie eine College-Abschlussrede vor Kunststudenten. Was war ihr Rat? «Being gay is not enough». Schwul sein reicht heute nicht mehr, um Karriere zu machen. Wer in der Kunstszene heute wirklich ausgegrenzt wird, sind die Heteros! Und je reicher, je privilegierter, desto schwuler. Homosexualität ist in den USA zu einer Klassenfrage geworden.
Obwohl Obama so viel für eine breite Akzeptanz in allen Schichten getan hat? Er hat viel dafür getan, ja, und ich war vollkommen gerührt, als das Weisse Haus in Regenbogenfarben erstrahlte, weil der Supreme Court die gleichgeschlechtliche Ehe durchgesetzt hatte. Ich bin ja selbst ein «ordained minister», ein ordinierter Priester, und habe gerade gestern zwei Schwule verheiratet. Ich bin überhaupt nicht gegen Homoehe, aber ich selbst würde nie heiraten.
Weil das zu bourgeois ist für einen Bohemien wie Sie? Als ich jung war, hiess «straight» noch nicht heterosexuell. Wenn du gekifft hast, warst du nicht straight, wenn du nicht gekifft hast, warst du straight. Du warst also ein Bohemien oder straight. Für mich gibt es deshalb «straight gay people». Menschen, die Mittelklasse sein wollen, die angepasst sein wollen. Die sollen doch heiraten! Aber es gibt eine neue Minderheit! Wahrscheinlich die allerkleinste! Über die redet niemand!
Wen denn? Leute, die eine Geschlechtsanpassung machen und dann merken: Oh Shit, ich hab einen Fehler gemacht. Das sind richtig, richtig arme Schweine (beginnt zu lachen).
Kennen Sie jemanden? Nein (lacht lauter).
Aber Sie stellen sich das gern vor. Früher hiess es: Wenn man sich irgendwas Sexuelles auch nur ansatzweise vorstellen kann, hat es garantiert schon mal jemand gemacht (Schlussgelächter).
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