Ich bin gerade etwas traurig. Ich musste vorgestern die klavierspielende Schauspielerin-Slash-Musikerin-Slash-Model-Slash-Alles ihrer Freundin zurückgeben. Der richtigen. Der aus der offenen Beziehung. Zurückgeben ist das falsche Wort. Die Freundin war ja immer da. Aber eben in London. Jetzt ist sie hier. Und ich bin weg. Das stimmt mich etwas wehmütig.
Also, ich wusste, dass dieser Moment kommt. Und ich fand es ja deshalb, also weil ich wusste, dass es ein Ablaufdatum für uns gibt, so verlockend, diese Geschichte anzufangen. Weil ich wusste, dass das nichts wird, musste ich gar nie darüber nachdenken, was es ist oder werden soll.
Vermutlich hätten wir auch gar nicht so lange ein Verhältnis gehabt. Aber Corona hat ihre Freundin nicht einreisen lassen und Serafine – so heisst sie, jedenfalls in diesem Text, kann sie ja hier nicht outen – mir überlassen.
Aber alles der Reihe nach.
Zwei Wochen nachdem der Lockdown anfing, öffnete ich, nach einer Ewigkeit wieder mal Tinder. Ich hatte davor nicht oft gute Erfahrungen mit der App gemacht und mein Profil auf unsichtbar gestellt. Aber Corona änderte ja schlicht alles und jeden. Einige machten Brot, andere Kinder, ich wollte weder noch, also ging ich auf Tinder.
LEUTE! DAS WAR EIN REIM!! EIN GEDICHT!
(Entschuldigt, ich bin wie gesagt etwas traurig, das macht mich manchmal capslock-ig.)
Allen, die nicht Männer UND Frauen wischen, soll gesagt sein: Das Niveau der Frauenprofile ist hundertmal besser. Ich weiss nicht genau, warum das so ist. Beide Geschlechter wollen ja gefallen. Aber während bei Männern manchmal knapp ein Foto scharf ist, die anderen Fotos Gruppenbilder oder Naturaufnahmen sind, geben sich Frauen richtig Mühe. Sie zeigen eine Nahaufnahme, dass man das Gesicht sieht. Ein Ganzkörperfoto, damit man den Body erkennt. Ein Foto mit Wanderschuhen oder irgendeinem Sportdress, das zeigt, wie fit oder naturverbunden die Frau ist. Ein Schnappschuss, damit man weiss, dass nicht alles gephotoshopt ist, und manchmal hats sogar noch eine lustige Bio.
Serafines Profil war beeindruckend. Foto von ihrem Gesicht. Dunkle Haare, dunkle Augen, schöne Lippen. Foto in Unterwäsche am Klavier. (Hat sicher ihre Freundin gemacht.) Sie beim Skifahren. Und dann noch vor einer grossen Kamera auf einem Filmset. Damit jede denkt: Die ist bestimmt ein Star.
Ist sie nicht. Das war mal eine Nebenrolle, also eher Statistenrolle. Sagen tut sie nichts in dem Film. Wir haben ihn dennoch zusammen geschaut. Weil sie so stolz ist. Und ich ihr gerne eine Freude machte.
In ihrer Bio stand: I’m in an amazing open relationship. But: She can’t be here. That said: Wanna be my quarantine?
Ich wollte.
Wir trafen uns zum Spazieren. Und behielten echt viel Abstand! Vielleicht nicht grad zwei Meter. Aber so anderthalb schon. Ich bin kein Rebell, hat euch Emma ja schon erzählt. Sie würde auch in Zeiten von Social Distancing unverfroren rumknutschen. Ich nicht. Bin schliesslich eine brave, angepasste Bürgerin.
Wir gingen also Spazieren. Eine Stunde lang.
Zwei Tage später: Nochmals Spazieren. Diesmal nahm ich Bella mit. (Ja, Hunde, die wie Wolken aussehen, ziehen immer. Bei Frauen jedenfalls.)
Weitere zwei Tage: Spazieren mit anschliessendem Picknick im Park.
Serafine hat 90 Prozent der Zeit geredet. Aber das hat mich nicht gestört. Sie hat einen schönen Akzent und kann gut erzählen. Und ich hatte Zeit.
Wir gingen insgesamt viermal Spazieren und zweimal zusammen Joggen, bis etwas lief.
Warum es so lange dauerte? Ich weiss es nicht, aber es ist oft so. Was ich zumindest aus meinen Erfahrungen gemerkt habe: Frauen investieren nicht nur mehr Zeit ins Tinderprofil, sondern auch ins Kennenlernen.
Die letzten zwei Monate war ich immer mittwochs und freitags bei ihr. Immer mittwochs und freitags. Nie am Montag. Nie am Donnerstag. Mir gefiel diese Routine. Auch wenn mich die Gespräche je länger je mehr langweilten. Nach einem Monat merkte ich, dass sie mir die gleichen Geschichten wie zu Beginn unseres Kennenlernens erzählt. Als wäre die Platte fertig gewesen und würde nun wieder von vorne anfangen. Ich habe dennoch weiter mit ihr geschlafen. Und wenn sie beim Frühstück angefangen hat zu reden, habe ich gefragt, ob sie mir was auf dem Klavier vorspielt. Hat sie immer gemacht. Sie liebt Publikum.
Ihrer Freundin in London hat sie von mir erzählt. Die war super-entspannt. Kein Wunder, sie hatte eine eigene Cleo in London. Die zwei scheinen das perfekte Paar zu sein. Sind seit sechs Jahren zusammen, seit zwei in einer offenen Beziehung.
Als sich abzeichnete, dass die Grenzen wieder aufgehen würden, war ich erleichtert, weil ich so schlecht darin bin, Geschichten zu beenden. Und ich hätte unsere Affäre beenden müssen. Ich kannte alle Geschichten schon. Habe alle doppelt gehört. Ein drittes Mal konnte und wollte ich sie nicht hören. Und auch der Sex wurde leider etwas, ja wie soll ich sagen, wiederholend. Als wäre die Platte zu Ende und hätte wieder von vorne angefangen.
Traurig bin ich trotzdem, dass es zu Ende ist. Weil ich mich daran gewöhnt habe und es ja doch irgendwie gut war. Und weil sie jetzt zurück in diese perfekte Beziehung geht und ich … zurück auf Tinder? Nein. Nein, nein, nein.
Hach.
HACH.
Was mache ich nun bloss am Mittwoch und am Freitag?
Kiss und Klits für euch,
Cleo
Wie ich Poesie liebe. <3
- In diesem Möchtegern-Künstlerinnendasein mit offener Beziehung scheint insgesamt nicht so viel Erwähnenswertes passiert zu sein. Nach mehreren Spaziergängen und Joggings mit gefühlt 90 Prozent Gesprächsanteil war offensichtlich der Inhalt bald einmal aufgebraucht.
- Dies könnte ein Beleg dafür sein, dass die Verpackung (Fotos, Bio auf Tinder) etwas mehr versprochen hat, als der Inhalt tatsächlich hergegeben hat.
- Interessant wäre noch, wie denn Serafine ihre 90 Prozent Gesprächsanteil empfunden hat. Oder ob es für sie gerade andersrum war.