Manchmal ist es einfach zu spät. Dann kann man nur noch höflich bleiben und auf die Zähne beissen. Zum Beispiel, wenn es einen Film erst ganz kurz vor einem bereits vereinbarten Interview mit der Hauptdarstellerin zu sehen gibt. Wie im Fall von «Music». Regie: Sia. Also die grundsätzlich wundervolle, grundsätzlich heissgeliebte Sia. Die sich als Filmregisseurin jedoch komplett verhauen hat. Aber das dämmert mir erst, als ich vor dem Film sitze.
Music (Maddie Ziegler) ist ein Mädchen und heisst so, weil es den ganzen Tag über Musik hört und von Musik träumt. Natürlich kommt Musics Musik von Sia, was schön ist. Music ist Autistin und lebt bei ihrer Oma, die unnützes Wissen sammelt und bald stirbt. Weshalb sich jetzt Musics Halbschwester Zu (Kate Hudson) um sie kümmert, die jedoch wegen allerlei Trouble mit Drogen auf Bewährung und mit Music komplett überfordert ist.
Das kann man natürlich machen, aber dann sollte man es gut machen. Sia hat eine unrealistische Kitsch-Orgie daraus gemacht, die alle, die schon mal mit einem Menschen mit einer Beeinträchtigung zu tun hatten, komplett vor den Kopf stösst und für einigen Aufruhr sorgt. Denn «Music» erzählt genau jenes unerträgliche Klischee-Märchen, dass man mit der richtigen Haltung jedes Problem in eine Bereicherung verwandeln könne.
Und so traumtanzt das Mädchen Music denn als autistische Amélie du Montmartre durch ihren Alltag. Wo sie hintritt, geht die Sonne auf und Blumen spriessen (metaphorisch gesprochen), und logisch geben sich Zu und ein hilfreicher Nachbar total gerne für dieses wunderbar wunderliche Geschöpf auf. Schliesslich ist sie eine Art Engel, der alle von den Gebrechen der Leistungsgesellschaft heilt und allgemein viel Menschlichkeit verbreitet. Es ist nicht zum Aushalten. Bis auf die Traumsequenzen. Die sind klassische surreale Sia-Musikvideos mit Maddie Ziegler.
Die Reaktionen auf «Music» sind noch verheerender als die auf «Cats». Das war wenigstens nur eine gescheiterte Musical-Verfilmung. «Music» ist ein unbedarftes, romantisches Autismus-Filmmusical, das mit realem Autismus so viel zu tun hat wie Radieschen mit einem Bagger.
Und trotzdem steht da noch ein kurzes Zoom-Interview mit Maddie Ziegler an. Mit einer grundsätzlich interessanten 18-jährigen Person also, deren Können als Tänzerin Respekt verdient. Weshalb man mit ihr auch noch über was anderes als «Music» reden kann. Gleich vorneweg: Mit Maddie Ziegler zu plaudern, macht Spass. Sie ist ein fröhlicher, begeisterter, optimistischer Teenager.
Wo erreiche ich dich?
Maddie Ziegler: In L.A.!
Es scheint, als könne dich nichts mehr stoppen. Du bist von einer Tanz-Casting-Show zu Sia gekommen, mit der du nun seit einigen Jahren zusammenarbeitest, du hast mit Steven Spielberg ein Remake der «West Side Story» gedreht, was sind deine Ziele? Der Mond? Mars?
Haha. Als Schauspielerin bin ich ja noch ganz am Anfang. Aber ich liiiiiebe Natalie Portman in «Léon: Der Profi». Sowas will ich machen. Ich träume davon, eine Killerin zu spielen und ich will meine eigenen Stunts machen! Ich glaube, das kann ich. Ich bin angstfrei. Ich bin bereit. Wenn ich Tanzszenen drehte in den letzten Jahren, hiess es immer wieder: Hier ist dein Stunt-Double! Und ich sagte: Kommt nicht in Frage, das mache ich selbst!
Auch wenn du dir die Beine brichst?
Daran denke ich gar nicht erst. Die Leute haben immer das Gefühl, weil ich eine Tänzerin bin, sei ich zerbrechlich und müsse beschützt werden. Aber ich will authentisch sein. Deshalb mache ich alles selbst. Ich bin Perfektionistin. Und ich liebe harte Arbeit. Alles oder nichts.
Gibt es eigentlich irgendwas Normales an deinem Leben?
Ganz ehrlich? Nein. Schon meine Kindheit war nicht normal. Keine normale Achtjährige macht eine TV-Show neben der Schule. Aber weil ich das wusste, versuchte ich immer, bodenständig und bescheiden zu bleiben, sonst holt dich die ganze Verrücktheit dieser Welt ein. Aber ich habe meine Freunde, von früher, von jetzt, und wenn ich nicht arbeite, verbringe ich meine Zeit mit ihnen und mache alles, was ein normaler Teenager macht.
Ich erinnere mich an den Tag, als du in unsere Leben kamst, ein Freund schickte uns das Video zu «Chandelier» und ich dachte: Entweder ist sie ein Wunder oder total verrückt. Bist du beides?
Wahrscheinlich! Nein, auch für mich war «Chandelier» komplett wahnsinnig. Ich war damals elf, und bis dahin hatte es geheissen: Als Tänzerin musst du hübsch sein! Und perfekt! Und dann probte ich für das Video, und musste alles, was ich gelernt hatte, vergessen. Der Choreograf Ryan Heffington und Sia hatten diese schöne, seltsame, hässliche Choreografie samt Gesichtsausdrücken entwickelt. Zuerst hatte ich Schiss, dann lernte ich, die Angst, perfekt sein zu wollen, abzulegen, und die neuen Ausdrucksformen wurden mir zur zweiten Natur. Es war so befreiend!
Du warst schon vor Sia aus «Dance Moms» bekannt, aber durch Sia bist du zu dieser avantgardistisch wirkenden Musikvideo-Tanzikone geworden.
Danke! Das Verrückte ist, dass ich mich eigentlich an nichts aus meiner Zeit in der Reality-Show erinnern kann. Ich war so jung damals! Aber den Tag, an dem ich Sia traf, werde ich nie vergessen. Ich konnte damals nicht ahnen, dass sie mein Leben verändern würde. Sie hat meine Kreativität befreit. Ich wurde zu mir selbst.
Und jetzt hat Sia dich zu Music gemacht.
Ich liebe Music! Sie ist mir sehr ans Herz gewachsen mit ihren Fantasien, ihren Träumen, in denen die Welt für sie unglaublich schön wird. Ich kann es immer noch kaum fassen, dass Sia mir diese riesige Verantwortung anvertraut hat.
Na ja, Sia erzählt immer, dass du ihre Muse bist. Dass sie ohne Maddie Ziegler gar nicht mehr arbeiten könne. Da erstaunt dieses Vertrauen nicht wirklich.
Ich bin irrsinnig dankbar, dass sie so über mich spricht und mir so viel zutraut. Wir arbeiten jetzt seit sieben oder acht Jahren zusammen und vertrauen einander blind. Ich vertraue darauf, dass alles, was sie macht, schön wird. Sie vertraut darauf, dass ich ihren Visionen Leben einhauche. Und sie ist die Gotte von mir und meiner Schwester geworden!
Wie genau wurdest du zu Music?
Ich habe viel recherchiert, ich schaute Filme und YouTube-Videos von Eltern, die ihre autistischen Kinder gefilmt hatten. Und während ich dies tat, lernte ich, dass jeder Mensch innerhalb des Spektrum anders und einzigartig ist, dass es keine definitive Aussage gibt und dass ich nichts kopieren kann. Ich näherte mich Music deshalb von der anderen Seite. Von der Fantasiewelt her. Zuerst drehten wir die Tanzszenen, daraus entwickelte ich die reale Music. Ich bin Tänzerin. Ich muss mich den Dingen vom Tanz her nähern. Music hat ja auch keine Dialoge, sie kommuniziert über Bewegungen und Ausdrücke.
Wieso hat Sia ausgerechnet diese Figur gewählt? «Music» ist ja gerade sehr umstritten.
Sie will niemals etwas Langweiliges machen. Sie will niemals etwas Normales machen. Sie hat keine Angst vor Grenzüberschreitungen und davor, etwas zu tun, was man so noch nicht gesehen hat. Jetzt haben alle dazu ihre Meinung und ich respektiere das total, jeder ist zu seiner Meinung berechtigt. Aber dieser Film ist ein so schöner, liebevoller Blick auf Menschen innerhalb des Spektrums und zeigt, wie schön sie die Welt wahrnehmen können. Auch viele meiner Freunde versuchen, innerlich zu fliehen und wünschen sich an einen märchenhaften Ort mit magischen Dingen. Ich glaube, gerade deshalb werden sich viele Menschen in diesem Film wiedererkennen.
«Music» gibt's bereits auf blue, iTunes und Google play und ab dem 24. Februar auch auf Sky und Rakuten TV.