Ist der Pandemie-Sonderjahrgang 2021 überhaupt standesgemäss für das Montreux Jazz Festival (MJF)?
Mathieu Jaton: Ja, und das ist es, was mich am meisten freut. Wir haben ein Programm zusammengestellt, das den Geist des Festivals, sein Rezept, beibehält: eine Mischung aus grossen Stars, die vor einzigartiger Kulisse auftreten – Zucchero und Woodkid werden auf dem See vor 500 Leuten spielen, aus jungen aufstrebenden Namen wie Yseult, Nubya Garcia, Arlo Parks oder Altin Gün und kleinen Kostbarkeiten wie Alina Amuri, Nnavy oder Arma Jackson.
Ist das angesichts der globalen Situation das Beste, was Sie sich vorstellen können?
Das ist schwer zu sagen, weil das ganze Tournee-Business komplett auf den Kopf gestellt wurde. Entscheidend war die Magie von Montreux und seiner Seebühne. Zucchero war der erste, der Ja sagte. Er freut sich, auf dem See zu spielen, akustisch, «back to the roots». Das ist das Schöne an der Krise: Sie verströmt eine Art Magie.
Vor zwei Monaten kündigten Sie die Ausgabe 2021 an. Wo standen Sie da mit der Programmierung?
Nirgendwo. Wir hatten die Künstlerinnen und Künstler für die «normale» Ausgabe 2021 bestätigt, die dann hinweggefegt wurde. Einige, wie Ibrahim Maalouf und Woodkid, hatten sehr grosse Shows im Stravinski Auditorium geplant. Als wir ihnen die Seebühne präsentierten, waren sie begeistert und freuen sich nun, mit einer angepassten Show zu kommen. Ohne ihr Vertrauen in uns wäre dies nicht möglich.
Wie geht man in so einer Situation konkret mit den Künstlerinnen und Künstlern um? Sollen man sie überhaupt für ein Festival anfragen, von dem man nicht weiss, ob es stattfinden wird?
Das ist Sport! Im April hatten wir das Gefühl, dass es sinnvoll ist, eine Bühne mit 500 Plätzen anzubieten. Von diesem Moment an kontaktierten wir alle Künstlerinnen und Künstler in Rekordzeit: Was wir normalerweise in sechs Monaten schaffen, schafften wir in einem Monat.
Sie haben quasi eine Wette abgeschlossen und diese gewonnen, noch bevor das Festival begann?
Ja, tatsächlich. Aber selbstverständlich gibt es noch Unbekannte: Was werden die zukünftigen politischen Entscheidungen sein? Wie werden wir Tests, Zertifikate, Kontrollen etc. handhaben? Am 11. Juni wird es neue Ankündigungen geben, die am 23. Juni in Kraft treten. Wir werden bis zum Ende auf Messers Schneide stehen. Und dann gibt es immer Risiken, etwa eine Virenvariante, die einen Künstler in einem Land blockiert. In allen Verträgen gibt es Covid-Klauseln.
Haben viele abgesagt?
Nicht wirklich. Es gibt einiges, was wir ausprobiert haben und was am Ende nicht funktioniert hat. Und ein paar Künstlerinnen und Künstler haben das Touren bis auf weiteres aufgegeben. Anderes hat funktioniert und ist sehr erfreulich.
Wie wird die MJF-Atmosphäre in diesem Jahr sein? Mit Masken, Zertifikaten, Kontrollen und Anmeldungen für die kostenlosen Veranstaltungen?
Um es ganz klar zu sagen: Die Atmosphäre wird nicht die sein, die wir normalerweise kennen. Die, in der man in grösster Freiheit über die Quais spaziert, Bier trinkt, links und rechts einem Konzert lauscht. Das Publikum muss sich darüber im Klaren sein, dass es, um in die Festivalbereiche zu gelangen, registriert und kontrolliert werden muss. Die Anmeldung für die kostenlosen Konzerte dient vor allem dazu, Frust zu vermeiden. Wir wollen nicht, dass die Leute von weit her kommen und sich vor einer vollen Veranstaltung wiederfinden, ohne dass es eine Alternative gibt wie in anderen Jahren. Uns sind frustrierte Menschen online lieber als frustrierte Menschen vor den Festivaltüren. Das ist das System, für das wir uns entschieden haben, und wir werden sehen, ob wir es nach den politischen Entscheidungen im Juni leichter machen können.
Trotzdem tummeln sich normalerweise eine Menge Leute während des Festivals in ganz Montreux. Sagen Sie allen, dass sie nicht ohne Ticket oder Registrierung kommen sollen?
Das ist so. Es macht auch keinen Sinn, abends, während der Konzerte, vom See her zu kommen: Die Docks werden geschlossen sein.
Werden einige der Ideen, die für 2021 entwickelt wurden, auch in Zukunft Bestand haben?
Seit Beginn der Krise war alles, was wir getan haben, entwicklungsorientiert. Wir wollten kein Pflaster für die Krise. Die Gestaltung des Montreux Palace und der Gärten wurde im letzten Jahr durchdacht. Die Seebühne ist experimentell und könnte auch in Zukunft verwendet werden. Ich erinnere daran, dass im Jahr 2024 die Arbeit am Kongresszentrum ansteht und das MJF Lösungen finden muss.
Hat eigentlich die finanzielle Unterstützung des Bundes das MJF 2021 erst möglich gemacht?
Nein, diese Hilfe ist eine zusätzliche Garantie. Wenn es zum Beispiel eine Variante gibt, die grosse Probleme macht, und der Bundesrat Ende Juni den Stecker zieht, verlieren wir statt mehrere hunderttausend Franken.
Hätten Sie es ohne diesen Schutzschirm trotzdem gewagt?
Ich bin verrückt genug, um Ja zu sagen.
Wird das MJF 2021 in jedem Fall ein Verlustgeschäft sein?
Ganz sicher. In diesem Jahr ist unser Geschäftsmodell völlig anders. Normalerweise finanzieren wir uns zu 45 Prozent aus Ticketverkauf, zu 25 Prozent aus der Gastronomie und zu 25 Prozent aus Sponsoring. Für 2021 sind wir bei Tickets und Verpflegung bei 10 und 5 Prozent, aber fast bei 50 Prozent durch Sponsoring. Wir erwarten eine Defizitabdeckung durch den Kanton nach dem Prinzip der Entschädigung bis zu maximal 80 Prozent des Restschadens. Aber das ist keine Garantie: Wenn die Veranstaltung vorbei ist, müssen wir über die Bücher.
Haben Sie auch einmal über das Ende des MJF nachgedacht?
Ich denke, sowas Ähnliches ist allen Kulturschaffenden irgendwann in den Sinn gekommen. Aber für mich ist das unvorstellbar und ich werde nach allen Lösungen suchen, um das Überleben des MJF zu sichern. Niemand kann das Risiko einer Pandemie kontrollieren. Es hat auch eine geopolitische Dimension: Wenn die USA morgen entscheiden, dass die Schweiz auf der roten Liste steht, haben wir ein Problem.