Leben
Liebe

Dauersingle: Das steckt wirklich hinter dem Phänomen Dauersingle

Serious caucasian woman in eyewear look at camera dialling number on mobile phone working remotely in coworking space, businesswoman using technologies for online research and job download updates
Perfekte Menschen gibt es nicht. Warum suchen einige trotzdem jahrelang danach?Bild: Shutterstock

Zu hohe Ansprüche? Das steckt wirklich hinter dem Phänomen Dauersingle

02.07.2023, 20:4703.07.2023, 10:15
Julia Dombrowsky / watson.de
Mehr «Leben»

Die Sneakers waren daneben, er hat so grunzend gelacht, sie hat zu viele Emojis versandt … Manchmal staunt man über die Gründe, die Freundinnen und Freunde angeben, wenn es mit dem vergangenen Date wieder einmal nicht gepasst hat.

Gerade wenn Menschen schon lange Single sind und sich laut Eigenangaben sehr nach einer Partnerschaft sehnen, fangen sich besonders pingelige Kandidaten irgendwann den harten Spruch aus ihrem Umfeld ein: «Deine Ansprüche sind einfach zu hoch!» Ist das nur fies? Oder am Ende wahr?

Psychologe Christian Hemschemeier arbeitet als Paartherapeut und coacht auch in Online-Kursen. Wir sprachen mit ihm über das Thema Ansprüche, Selbstschutz und Überforderung auf dem Dating-Markt.

Psychologe Christian Hemschemeier
Psychologe Christian Hemschemeier Bild: privat / christian kerner

«Da kann etwas dran sein», sagt er. «Es gibt beides. Es gibt Menschen mit keinen Standards und Menschen mit ‹Über-Standards› – kurioserweise finden die häufig zusammen.»

Keiner hört natürlich gerne, dass er die Messlatte beim Dating zu hoch ansetzt, denn das impliziert auch, dass man sich selbst überschätzt, «aber ist tatsächlich so, dass wenn ich Klienten oder Klientinnen habe, die sagen, sie finden niemanden, ich immer als Erstes versuche zu ermitteln, ob sie ‹Überstandards› haben», gesteht der Therapeut aus der Praxis, «denn das ist ein häufiger Grund für Dauer-Singletum

Warum Dating-Apps und Couplegoals unsere Ansprüche heben

«Alle Guten sind schon vergeben», heisst es oft. Doch nicht die Auswahl, sondern das vorschnelle Aussortieren eigentlich netter Dating-Kandidatinnen und -Kandidaten ist eine Hürde für die Partnersuche. Wann sind wir überhaupt so wählerisch geworden?

Christian Hemschemeier sagt, dass die Forschung zeige, «dass diese Entwicklung unter anderem auch an den sozialen Netzwerken liegt. An der Darstellung von ‹Powercouples› und ‹Couplegoals›, also glücklicher Paare, die wahnsinnig attraktiv, aktiv und abenteuerlustig sind.» Er führt aus:

«Die Menschen legen diese hohen Standards unbewusst an ihr echtes Leben an und vergessen dabei, dass viele Dinge auf Social Media Fake sind.»

Auch ein weiteres Phänomen des modernen Datings mache sehr wählerisch: Tinder, Bumble, Hinge und Co. Der Supermarkt-Effekt auf Apps suggeriere, dass all diese Menschen theoretisch verfügbar wären, wie Produkte in einem Onlineshop. Das sei aber ein Trugschluss.

«(Wir) leben alle in einer Leistungsgesellschaft und wollen auch unser Dating-Game ‹optimieren›, also den besten Partner finden.»
Psychologe Christian Hemschemeier

«Dating-Apps suggerieren, man hätte so eine grosse Auswahl, dass man sich leisten könnte, besonders wählerisch zu sein», erklärt der Psychologe. «Also: Der hat kein Sixpack, ist nicht 1,85 cm gross – direkt weggewischt. Besonders meine Klientinnen sortieren auch schnell aus, wenn die ersten Sätze der Kontaktaufnahme nicht sofort spannend sind.»

Dass Frauen im Grossen und Ganzen bei der Partnerwahl wählerischer sind als Männer, bestätigt sich regelmässig auch in Erhebungen der Dating-Portale selbst. «Ein wenig hängt das damit zusammen, dass für Frauen – zumindest in einer gewissen Altersspanne – tatsächlich die Auswahl grösser ist, sie also mehr Angebote bekommen», erklärt Hemschemeier das Geschlechtergefälle.

Zum Thema: «Ansprüche müssen aus dem Herzen kommen, nicht aus dem Ego.»Video: YouTube/Liebeschip: Dipl.-Psych. Christian Hemschemeier

Zudem «leben wir alle in einer Leistungsgesellschaft und wollen auch unser Dating-Game ‹optimieren›, also den besten Partner finden». Nicht immer steckten dahinter rein romantische Motive, nicht immer gehe es «um Liebe», mahnt der Therapeut: «Manche wollen einfach einen tollen Partner, um besser dazustehen und suchen entsprechend nach Kriterien wie Aussehen und Status.»

Hohe Ansprüche «schützen» Singles vor echter Bindung

Doch abgesehen von echten Oberflächlichkeiten: Warum entwickelt ein Mensch auf dem Datingmarkt überhohe Ansprüche und ein anderer lässt sich eher auf kleine Makel des Dates ein?

In der Therapie würde bei Menschen mit überhohen Ansprüchen geschaut, «ob jemand eigentlich ein bindungsängstliches Muster hat, denn das führt oft zu diesen Überstandards», sagt Hemschemeier. «Der oder die Bindungsängstliche sucht tausend Gründe, warum es mit diesem oder jenem Menschen nicht klappen kann. Man würde angeblich eine Beziehung wollen, aber leider ist keiner gut genug. Manchmal steckt dahinter Selbstschutz.»

«Alles ertragen, solange der Andere sie nicht ran lässt, aber alles kritisieren, sobald der Andere ihnen nahe kommt.»
Psychologe Christian Hemschemeier

Ein ziemlich klares Symptom für Bindungsangst sei es, wenn man sich nur auf Bindung einlassen würde, wenn der oder die Andere es nicht will, führt der Psychologe aus:

«Wenn man jemanden begegnet, der noch bindungsängstlicher ist, als man selbst, gibt man Vollgas und fühlt sich sehr verliebt. An dieser Dynamik merkt man klar, dass es um Distanz geht. Dass Gefühle nur dann zugelassen werden, wenn diese Distanz sicher besteht. Frei nach dem Motto: Wenn der andere mich wegstösst, dann kann ich mich darauf einlassen. Das ist ein klares Bindungsmuster.»

Was typisch für Bindungsangst ist

Das Interessante dabei sei, dass gerade die Menschen, die ansonsten sehr hohe Ansprüche hätten, alles akzeptierten, sobald sie sich selbst in der «Bittsteller»-Position befänden. Plötzlich sind das Lachen und die Emojis egal, selbst gravierende Defizite, wie Untreue oder Lieblosigkeit würden hingenommen. Hemschemeier dazu:

«Für mich ist es immer wieder unglaublich, was Menschen alles akzeptieren, sobald sie von dieser Verlustangst befallen sind und gleichzeitig mit einem anderen Menschen die Bindung wegen jeder Kleinigkeiten aufbrechen wollen – beispielsweise weil die Butter nicht in den Kühlschrank zurückgestellt wurde.»

Noch typischer könnte ein Muster nicht sein, sagt er. Bindungsängstliche würden «Alles ertragen, solange der Andere sie nicht ran lässt, aber alles kritisieren, sobald der Andere ihnen nahe kommt.»

So absurd das aus der Ferne klingt – für Betroffene ist dieses Verhalten mit enormem Leidensdruck verbunden. Und natürlich kann es sein, dass Freunde und Freundinnen daher irgendwann zu einer Therapie raten oder eben zum berüchtigten Satz greifen, man solle doch die Ansprüche mal etwas senken.

Erfolgversprechend seien solche Tipps nicht, sagt Hemschemeier: «Die allermeisten Dating-Ratschläge werden nicht angenommen, weil jeder meint, er weiss es besser und gar nicht bereit ist, sich zu ändern.» Selbsterkenntnis und der Wunsch nach Verhaltensänderung müssten von innen kommen und leider dauert es oft, bis das geschieht.

Doch manchmal kommt der Wendepunkt tatsächlich. «Wenn man genug gelitten hat, denkt man vielleicht schon mal darüber nach», weiss der Experte aus der Praxis. Es gäbe Wege, sich aus der Bindungsangst hinauszubewegen, zum Beispiel mit professioneller Hilfe. Und vielleicht klappt es dann tatsächlich noch mit der zuverlässigen, herzlichen Person – trotz hässlicher Sneakers.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die «besten» Anmachsprüche auf Tinder im Check
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
226 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
MrBlack
02.07.2023 21:31registriert September 2016
Ich denke, der Hauptgrund warum ich Dauersingle bin ist, dass ich sehr schlecht flirten(auf Frauen zugehen, nonverbale Kommunikation, etc.) kann. Für Datingapps bin ich wohl etwas zu langweilig. Wenn ich mal jemanden finden werde, dann wohl durch Zufall. Dass ich damit gut leben kann und keinen Druck verspüre ist Vor- und Nachteil zugleich.
2498
Melden
Zum Kommentar
avatar
Halb Wissen
02.07.2023 21:07registriert August 2017
In Dating-Apps habe ich resigniert.
Ich bin zu sonderbar und nicht bereit mich zu ändern.
16611
Melden
Zum Kommentar
avatar
Padi76b
03.07.2023 05:27registriert Dezember 2020
Dass die Menschen heute höhere Ansprüche haben sehe ich als eine normale gesellschaftliche Entwicklung. Mein Grosseltern lebten noch mit der traditionellen Rollenverteilung. Meine Grossmutter hatte nie eine Lehre gemacht und brauche einen Mann um Geld nach Hause zu bringen, und mein Grossvater wäre alleine wohl verhungert. Ihre Beziehung war zu einem gewissen Grad eine Zweckgemeinschaft, nicht die grosse Liebe. Heute brauchen die Menschen solche Zweckgemeinschaften nicht mehr und man kann auch als Single sehr gut leben. Höhere Ansprüche an den Partner sind daher eine logische Konsequenz.
655
Melden
Zum Kommentar
226
    5 ikonische Auftritte, die den Eurovision Song Contest für immer veränderten

    Gerne wird die grösste Musikshow der Welt als kitschiges Trashfest abgetan, das nur in Osteuropa ernst genommen wird. Dabei geht vergessen, dass der Eurovision Song Contest immer wieder eine internationale Schaubühne für innovative Veränderungen war, ein wichtiger Gradmesser der Populärkultur. Hier kommen fünf Auftritte, die das Wesen des ESC nachhaltig veränderten:

    Zur Story