Es ereignet sich in dieser Award-Saison Wunder um Wunder. Und Comeback um Comeback. Eins der Wunder heisst «Everything Everywhere All at Once» von Daniel Kwan und Daniel Scheinert. Die Geschichte einer asiatischen Waschsalonbesitzerin (Michelle Yeoh) in Amerika, die sich mit dem Lästigsten, was Amerika zu bieten hat, nämlich der Steuerbehörde, anlegen muss. Im Kampf um ihr Unternehmen und ihre Familie driftet sie in immer absurdere Fantasy-Szenarien ab. Ein grandioses, surreales und völlig bedrogt wirkendes Bild- und Ideengewitter von einem Film. Und eine Collage aus Yeohs bisherigem Werk. Sensationell.
Die 60-jährige Yeoh begann ihre Karriere nämlich vor exakt 40 Jahren als Miss Malaysia und stieg dann zu einer Ikone des actionverliebten Hongkong-Kinos auf, wo sie sich in coolem Mist wie «The Heroic Trio» verausgabte. 1997 trat sie als hartes Bond-Girl in «Tomorrow Never Dies» in unser Bewusstsein. 2023 war sie zum ersten Mal für einen Golden Globe nominiert, sie musste ihn einfach gewinnen und sie hat ihn gewonnen. Was für eine Freude.
Das offensichtlichste Comeback liefert Jennifer Coolidge mit ihrem Golden Globe für die HBO-Serie «The White Lotus». Vor langer Zeit wurde sie als in der Ich-wichse-in-meinen-Apfelkuchen-Reihe «American Pie» als Stifler's Mum, die Urmutter aller MILFs, berühmt. Doch das nur am Rande. Denn das Comeback aller Comebacks gehört heuer dem vietnamesischen Schauspieler Ke Huy Kwan, der bis jetzt, bis zu seinem Einsatz als Mann von Michelle Yeoh in «Everything Everywhere All at Once» nie mehr an den frühen Ruhm seiner ersten Rolle als Little Round in «Indiana Jones und der Tempel des Todes» anschliessen konnte.
Auch für ihn hagelt es jetzt Auszeichnungen, der Golden Globe als bester Nebendarsteller ist so verdient, er und Yeoh spielen ein derart anrührendes Ehepaar wie sonst nur noch Michelle Williams und Paul Dano in «The Fabelmans».
Steven Spielberg hat mit der Fiktionalisierung seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen in «The Fabelmans» die Golden Globes für die beste Regie und den besten Film gewonnen. Zu Recht. Was für ein schöner, schöner, schöner Film! Aus Embargo-Gründen darf hier noch fast nichts darüber verraten werden, aber eine liebevollere und originelle Umschiffung von drohenden Abstürzen in den Nostalgie-Kitsch gab es selten zu sehen. Man will diese Familie aus melancholischen Nerd-Vögeln adoptieren oder von ihr adoptiert werden, und sei es nur, um ein einziges Mal in einem Homevideo des kleinen Steven alias Sam vorzukommen.
Es ist nun einmal so: Zwei Menschen setzen sich in den gleichen Film – und sehen einen anderen. Wieso genau «The Banshees of Inisherin» bei den Golden Globes in der Kategorie «Musical or Comedy» gelandet ist (und «Elvis» unter «Drama Film»), ist mir ein Rätsel. Das ist eine tragisch genaue, lakonische Studie darüber, wie grundlos gründlich sich die Menschen auf dem Dorf zuleide werken können. Die anfänglichen Lacher verwandeln sich da in ungläubiges Gruseln. Wie «The Fabelmans» und «Everything Everywhere at Once» ist auch das ein ungewöhnlich eigensinniger Film. Dafür gab's drei Trophäen und bei den Oscars wird er Spielbergs härtester Konkurrent.
Colin Farrell wins the award for Best Actor in a Musical or Comedy Motion Picture at the #GoldenGlobes. pic.twitter.com/gfzrB0JGBw
— NBC Entertainment (@nbc) January 11, 2023
Haben wir schon einmal über «Tár» von Todd Field geredet? Filmisch kann man das nicht als Wunder bezeichnen, aber Cate Blanchett wird dafür ihren dritten Oscar nach «Blue Jasemine» und «The Aviator» gewinnen, das steht fest, den Golden Globe hat sie bereits. Sie spielt eine lesbische Spitzendirigentin, also eine Frau in einem Beruf, in dem man immerzu über andere den Stab erhebt, und sie nutzt diesen Job dazu, sich eine Zufuhr an eifrigem Frischfleisch zu sichern.
So weit, so altbekannt, in vielen grossen klassischen Dirigenten verbirgt sich ein kleiner Harvey Weinstein, und würde Field die Geschichte mit einem Mann erzählen, würde sie erwartbar und klischiert wirken. Dass er sie nun mit einer Frau durchdekliniert, bringt eine neue Schärfe in das Thema, macht es universeller und beschreibt die Tragik eines kreativen Systems, aber auch einer Täterin selbst. Diese Tár ist böse. Und diese Tár scheitert. Allzu lange nicht, doch dann umso schäbiger. Denn im Gegensatz zu ihr kommt das Frischfleisch nicht in die Jahre. Es weiss sich zu helfen. Ein Film, auf den ich erst keine Lust hatte, doch Cate Blanchett zerfetzt als Tár mit hochintriganter Energie jeden Widerstand.
Oder «Elvis», Baz Luhrmans prächtige, berauschte, impressionistische Annäherung an den Mann, der uns so viel Musik und den Elvis Toast hinterlassen hat. Es wird nicht so ganz klar, was genau Luhrmans Motivation ist, was er uns genau mitteilen will, ausser «geile Geschichte, geiler Look, geile Musik». Doch all das ist – sehr geil. Staunen inklusive Abspann. Cinematische Überwältigung.
Klar, dass Austin Butler dafür den Golden Globe als bester Darsteller in seiner Kategorie gewann («Drama»). Klar auch, dass er bei den Oscars gegen den Sieger der Kategorie «Musical or Comedy» verlieren wird. Denn Butler ist zwar der perfekte Elvis-Körper und -Imitator (weshalb er auch jetzt noch wie Elvis redet), aber ihm fehlt im ganzen Spektakel, wovon Colin Farrell in «The Banshees of Inisherin» schmerzhaft zu viel hat: Seele.
Am 24. Januar wird klar, wer womit im März bei den Oscars anwesend sein wird. Nach den Golden Globes zu urteilen, lauter richtige Filme. Ich habe jedenfalls in meinen 27 Jahren als Journalistin noch keinen so guten Jahrgang erlebt. Keinen mit so vielen eigensinnigen, wahnsinnigen und grössenwahnsinnigen Filmen. Es ist ein Fest.
«The Banshees of Inisherin» läuft jetzt im Kino. «Tár» startet am 23. Februar im Kino, «The Fabelmans» am 9. März.
«Everything Everywhere All at Once» und «Elvis» laufen auf Amazon Prime.