Die jüngste Schwester meiner Grossmutter hatte Glück. Sie musste nicht in die Fabrik, sondern wurde Dienstmädchen. Bei einer reichen Familie in Basel. Die jedoch so lieblos war, dass sie dem Mädchen, das höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein dürfte, ein kaltes, feuchtes Zimmer gab und sich auch nicht um ihre Angestellte kümmerte, als diese schwer krank wurde. Die jüngste Schwester meiner Grossmutter, die mit soviel Hoffnung vom Land in die Stadt aufgebrochen war, starb, bevor sie auch nur den Hauch einer eigenen Zukunft hatte verwirklichen können.
Hätte sie mehr Selbstbewusstsein besessen, so hätte sie sich Hilfe geholt: Denn damals, es dürfte um 1940 herum gewesen sein, gab es auch in Basel die internationale und in der Schweiz besonders florierende Organisation Freundinnen junger Mädchen (FJM), die sich um Schicksale wie ihres kümmerte. Sie bot eine Stellenvermittlung, prüfte Arbeitsverträge und bot jungen Frauen Unterschlupf in einer frühen Fassung von Frauenhäusern, wenn etwas schief ging. Geführt wurde der FJM ehrenamtlich von bürgerlichen Protestantinnen.
Das «junge Mädchen», also die sehr junge, unverheiratete Frau in der «Fremde» galt als besonders gefährdetes Gut. Die «Fremde» konnte dabei Zürich, Basel, die Romandie, London, Spanien oder Griechenland heissen. Und in die Fremde fuhren Mädchen aus zwei Gründen: Da war die Abenteuerlust allein reisender Touristinnen, vor allem aber die Notwendigkeit von ärmeren Töchtern, die Geld verdienen mussten, um zuhause eine grössere Familie zu unterstützen.
Dienstmädchen in Privathäusern und Hotels oder Kellnerinnen waren überall gefragt, viele machten sich ohne Kontakte in grössere Städte auf, um erst dort nach einer Stelle zu suchen. Reise wie Ankunft, so propagierten dies die Damen des 1877 in Genf gegründeten FJM und ähnlicher Vereine, waren höchste Gefahrenzonen, denn jedes Mädchen konnte unversehens in einem Bordell landen.
«Mitten in unsern Städten wohnen, durch unsere Dörfer schleichen, auf unseren Heerstrassen auteln, in unseren Bahnzügen fahren diese Vampyre der Unschuld, diese Schlächter jugendlicher Opfer, diese meist schnell reich gewordenen gefühllosesten Ausbeuter menschlicher Schwächen: die Mädchenhändler und -händlerinnen», warnten 1911 die «Blätter für religiöse Arbeit». Und legten mit Begriffen aus dem antisemitischen Vokabular wie «schleichen», «Vampyre» und «Schlächter» auch gleich nahe, dass es sich bei den Mädchenhändlern vornehmlich um Juden handeln könnte.
Und 1996 schrieb die «Weltwoche»: «Die Geschichte des FJM führt zurück ins schmutzige London Anno 1860: Junge Mädchen wurden damals in Freudenhäusern zu Höchstpreisen gehandelt, und es galt als einträgliches Geschäft, die Deflorierung unter Mithilfe von Blutegeln oder Glasscherben glaubwürdig zu imitieren.»
Sie wollten «den Feind aushungern», indem sie «ihm die Zufuhr abschneiden». Sie gehörten zu den Frühstnutzerinnen von Telefonapparaten und verwendeten viel Zeit darauf, internationale Listen mit Kontakt-«Agentinnen» zu führen. Den «schlimmen Hotels, schlechten Häusern» und «staatlich konzessionierten Prostitutionshäusern in allen Ländern der Welt» setzten sie spiegelverkehrt ihre «heimelig» eingerichteten Mädchenhäuser entgegen.
In den 50er-Jahren leitete der FJM auch in Kairo, Alexandria, Riga und Athen Anlaufstellen, und der «Orient» war ein Thema: 1952 gab der FJM beim Bund eine Broschüre mit dem Titel «Dein Volk sei mein Volk» für «die sich nach dem Orient verheiratenden jungen Mädchen» in Auftrag, und 1970 gründete er die «Auskunftstelle Ehen mit Orientalen in Basel» und erteilte «kostenlose Informationen über Lebensbedingungen und rechtliche Stellung der Frau in entfernteren Ländern und Arbeitsmöglichkeiten des Mannes in der Schweiz».
Wer beim FJM nicht bloss zahlendes Mitglied sein, sondern etwa die äusserst wichtige und gefragte «Bahnhofsarbeit» leisten wollte, musste mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen. Die vom FJM betriebenen Bahnhofs-«Stübli» wandelten sich je nach Bedarf von Auffangstationen allein reisender Mädchen zu Empfangsstuben von Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg, Wickelstuben, einem Rollstuhlverleih für Gehbehinderte oder Erholungsräumen für Sexarbeiterinnen.
Doch die penetrante propagandistische Schwarzmalerei, das Rollenverständnis des FJM, das jungen Frauen zwar eine sichere und selbständige Erwerbsarbeit ermöglichen wollte, aber nur innerhalb der traditionell weiblichen Tätigkeitsfelder Hausarbeit und Fürsorge, machten den FJM im Lauf der Jahre bei jungen Frauen nicht beliebter. Ebenso wenig das ewige Bibellesen in den Freizeit-Clubs für Schweizerinnen im Ausland, die heilsarmeehafte Verstaubtheit und die Betonung von Tugendhaftigkeit und Keuschheit.
Das Interesse an Hausarbeit sank, 1953 etwa meldeten sich auf 2000 ausgeschriebene Stellen in der Schweiz nur 865 Bewerberinnen, von denen schliesslich 470 vermittelt werden konnten. Die Schweizerinnen im Ausland – etwa die 6000, die jedes Jahr in England eine Stelle suchten – wurden immer fordernder, was Freizeit, Entlöhnung und Reiseentschädigung betraf.
In der Schweiz waren es umgekehrt deutsche Frauen im Welschlandjahr, die auf «möglichst viel Freizeit zum Besuch von Sprachkursen» (NZZ von 1962) bestanden. Und was früher eine Haushaltshilfe gewesen war, wurde nun zum Au-pair. Zur jungen Verkäuferin, Lehrerin oder Krankenschwester, die sich ihren Sprachaufenthalt irgendwie finanzieren musste und für die nicht mehr die Hausarbeit im Vordergrund stand.
Seit 1999 heissen die Freundinnen junger Mädchen Compagna, Begleiterin. Sie betreiben unter anderem in Basel die Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen (allein in Basel gibt es 2800) Aliena und die preisgekrönte Beratungsstelle für Binationale Paare und Familien, in Zürich das Frauenhotel Lady's First, in Graubünden eine Leihgrosseltern-Vermittlung oder die gesamtschweizerische Reisebegleitung für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Sie regeln die Übergabe von Kindern zwischen geschiedenen Elternteilen auf Bahnhöfen. Sie tun noch immer viel. Im Namen der Barmherzigkeit, der Mitmenschlichkeit. Und gehören damit zu den Hunderten, ohne die allzu viel Hilfe nicht geleistet würde. Hilfe, die ohne ein gewisses Mass an Missionsbewusstsein wohl einfach nicht auszuhalten wäre.
Dieser Artikel entstand aufgrund der soeben erschienenen, umfangreichen Vereinsgeschichte «Das Fräulein vom Bahnhof» von Esther Hürlimann, Ursina Largiadèr und Luzia Schoeck aus dem Hier-und-Jetzt-Verlag. Sowie aufgrund vieler Artikel aus NZZ, «Weltwoche» und «Basler Zeitung».
Wie kommt man darauf? Das erschließt sich mir nicht so ganz
Nazis wurden ja auch als Schlächter bezeichnet. Zum Beispiel Heydrich, der Schlächter von Prag.
Antisemitisches Vokabular? Ich weiss ja nicht....