Als die Mutter mit hundert Jahren stirbt, findet Lisbeth das Couvert. Vom Vater. Im Couvert sind 100 unberührte Franken. Toni Ebnöther (1919–2011) hat sie der Mutter gegeben, um ihre Schwangerschaft zu beenden. Um Lisbeth abzutreiben. Er war ein katholischer Pfarrer und Lisbeth war nur eins von vielen Kindern, das er gezeugt hat. Sechs von ihnen haben sich bis heute gefunden. Sechs Kinder von vier Frauen. Gut möglich, dass es noch mehr Halbgeschwister gibt.
Die meisten von ihnen hatten irgendwann mit dem Vater Kontakt. Als Lisbeth ihn zum ersten Mal trifft, mit über 30 Jahren, legt er ihr die Hand aufs Knie und will sie küssen.
Ihre Mutter redet erst im hohen Alter, kurz vor ihrem Tod, vor der Kamera des Zürcher Dokumentarfilmers Miklós Gimes darüber, dass der Pfarrer sie 1949 vergewaltigt hat. «Er het mich eifach gha und verdruckt, furtgschosse», sagt sie weinend. Die Kamera wird zum Therapeuten. Nicht nur für Lisbeths Mutter. Zum Gegenüber, vor dem die Mauer der Scham nach Jahrzehnten endlich in sich zusammenstürzt.
Schweigen, Scham, Schande. Drei Riesen, welche die Seelen von Mutter und Kind zertrampeln. Die Wahrheit muss unter allen Umständen vertuscht werden. Man redet nicht darüber, weil es sonst nach aussen dringen und die Leute darüber reden könnten.
Auch Monikas Mutter hat 1958 ein Couvert mit Geld erhalten, doch sie verstand den Hinweis nicht, sie kaufte sich davon Wolle und strickte Babykleider. «Höllisch weh», sagt sie, habe es getan, als der Pfarrer sie vergewaltigte, sie war wie Lisbeths Mutter eine leichtgläubige, unaufgeklärte, einfache junge Frau, «i bi halt blöd gsii», sagt sie. Die junge Blauring-Führerin war verwirrt, als der Pfarrer sagte: «Chumm e chli is Bett, es isch wärmer», und als sie ihn fragte, ob sie jetzt etwa schwanger werden könne, sagte er, nein, sicher nicht.
Der Dokfilm «Unser Vater», ein verkehrtes (oder auch reformiertes) Vaterunser, tut im Grunde nichts. Er bringt bloss die Leute zum Reden. Miklós Gimes sitzt an ihren Tischen oder Altersheimbetten, bis sie reden mögen. Bei manchen jahrelang. Seine Geduld, seine Behutsamkeit sind die Zuwendung, die sie brauchen, er schafft Vertrauen. Er fängt ihre Gesichter ein, wenn sie das Ungeheuerliche in wenigen Worten erzählen. Die Leute und ihre Gesichter können und wollen nicht lügen, Verstellung liegt nicht in ihrem Naturell, umso qualvoller, umso zerstörerischer ist für sie das Schweigen und die Geheimnistuerei.
Die Mutter von Adrian und Daniela glaubt jahrzehntelang, dass nur ihre Kinder ein Fehltritt von Toni Ebnöther und damit etwas Besonderes gewesen seien. Die vier fahren sogar einmal zusammen in die Ferien. Als sie im Zuge von Monikas Familienforschung erfährt, dass da noch andere sind – neben Monika und Lisbeth auch die Geschwister Christine und Toni –, ist sie traurig und schockiert.
Eine andere Gemengelage herrscht bei der Zeugung von Toni und Christine. Allein dieser Stoff würde für eine ganze Serie reichen. Mit 19 wird ihre künftige Mutter mit einem ehemaligen Verdingbub verheiratet, er heisst Karl und gilt als gute Partie. Karl hat keine Ahnung von Frauen und nach dem ersten Kind läuft nichts mehr.
Da geht der Vater der jungen Frau zu Pfarrer Ebnöther, der als Seelsorger der einzige Fachmann für feinstofflichere Probleme weit und breit ist, und bittet ihn, seiner Tochter in einem Gespräch doch den Weg zu einem glücklicheren Eheleben zu weisen. Gesagt, getan, doch die Tochter will lieber ein heimliches Liebesleben mit dem Pfarrer. Wie es ihr gelingt, die beiden Kinder Karl unterzujubeln, wissen Toni und Christine noch heute nicht.
Doch sie wissen, dass das Spiel, das die Mutter und Ebnöther mit Karl und den Kindern noch jahrelang getrieben haben, schwere Vertrauensschäden angerichtet hat. Toni hat keines mehr, zu niemandem, er spult jede, «würkli jedi» Liebesszene in einem Film vor, und Christine hat sich mit ihren Hunden in Italien abgeschottet. Ihre inneren Mauern sind haushoch. «Deshalb habe ich auch Maurer gelernt», weint Toni. Ein Stein, wer den Mann nicht sofort in den Arm nehmen will. Doch genau das wäre ihm zu viel.
Es ist Monika, die nach Ebnöthers Tod die Familienforschung ins Rollen bringt, und es entwickelt sich unter den Halbgeschwistern viel Gutes, viele Gespräche, viel Trost und Freude aneinander. Der amtierende Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain spricht von einem «Happy End». Er entschuldigt sich bei der neu zusammenwachsenden Grossfamilie: «Es tut mir leid und ich kann nur sagen: Verzeihen Sie uns. Wir, die Kirche, sind schuldig.»
Die Kirche, in deren Schutz Ebnöther lebte, wie es ihm gefiel. Niemand wagte es, einem römisch-katholischen Geistlichen einen allzu menschlichen Fehltritt vorzuhalten, das konnte ja mal passieren, und wer waren schon die einfältigen jungen Frauen, um ihn in seiner heiligen Mission zu stören? Wenn eine zu reden begann, wurde sie als Lügnerin gebrandmarkt.
Und Pfarrer Ebnöther selbst? Der wurde auch endlich der Kirche zu viel, sie entliess ihn nach unzähligen, fadenscheinig begründeten Versetzungen. 1959 wurde er Wirt der Pension Sunneschy im Prättigau. Und zum Heile-Welt-Toni, der Kassetten mit selbst gesungenen Ländlern und Kirchenliedern aufnimmt. Lieder voller dunkler Hütten tief im Grünen, auf die nur ab und zu ein Sonnenschein fällt. Hütten vermutlich, deren Bewohnerinnen und Bewohner äusserst schweigsam sind.
In Ebnöthers Liedern sind Gottes Wege immer richtig. Auch wenn sie noch so krumm sind.
«Unser Vater» läuft ab dem 6. April im Kino.