«Vielleicht ess ich etwas weniger», sagt Edward Snowden. Es ist sein einziges Zeichen von Stress. Er ist gefasst, er rechnet mit vielem. «Es tut mir gut zu wissen, dass ich zum Wohl anderer beitragen kann.» Es ist Anfang Juni 2013, der blasse dünne Snowden sitzt barfuss auf einem Hotelbett in Hongkong, acht Tage lang erzählt er dort der Filmemacherin Laura Poitras und dem Journalisten Glenn Greenwald alles über die NSA und den amerikanischen und britischen Überwachungswahnsinn.
Wenn Snowden Daten auf Greenwalds Computer überträgt, versteckt er sich samt Rechner unter einer roten Decke. Wenn er das Telefon beantwortet, ist seine Wortwahl höflich und vollkommen unverfänglich. Vor dem Spiegel übt er Verkleidungen. Es sind ein paar Quadratmeter purster Paranoia, aber ohne Panik.
Natürlich behält Edward Snowden recht. Während er auspackt, während Greenwald seinen damaligen Arbeitgeber, den «Guardian», beliefert, laufen Bilder von Snowden weltweit über die Bildschirme. Poitras, Greenwald und der Whistleblower schauen dabei zu. Und wir ihnen. Acht Tage Echtzeit, gerafft in zwei Stunden. Der Aktenberg über Snowden wächst mit jeder Sekunde. Die Akne in seinem Gesicht breitet sich aus.
Aus Hongkong flieht er nach Moskau und verbringt vierzig Tage in der Transitzone des Flughafens. Poitras reist zu Julian Assange, der versucht, Geld zu sammeln, um Snowden in einem Privatflugzeug die Ausreise nach Island oder Ecuador zu ermöglichen. In Moskau erhält Sowden politisches Asyl für ein Jahr. Es wird später um drei Jahre verlängert, im Juli 2014 zieht seine Freundin zu ihm, die beiden leben in einem Holzhaus mit Zimmerpflanzen.
In jenem Hotelzimmer in Hongkong ist er 29 und entschlossen, die Wahrheit zu sagen. «Ich glaube, es hat Wirkung, wenn sich einer hinstellt und sagt: Ich habe keine Angst.» Und von allen Menschen auf der Welt, will er diese Wahrheit Laura Poitras sagen. Er kontaktiert sie über verschlüsselte Mails, die er mit «Citizenfour» unterzeichnet, und die beide stetig noch sicherer verschlüsseln. Er vertraut ihr, weil er weiss, dass sie selbst eine Überwachte ist. Eine, die den Druck, die Qual und die Omnipräsenz von Repressionen versteht. Und auch schon darüber gearbeitet hat.
Laura Poitras ist heute mit «Citizenfour» für einen Oscar nominiert, sie war es schon einmal, nämlich 2007, mit ihrem Film «My Country, My Country» über einen sunnitischen Arzt, der im Irak Wahlkampf macht. Laura Poitras ist heute 50, stammt aus einer wohlhabenden Familie aus Boston und arbeitete nach der High School als Köchin in einem Nobellokal in San Francisco. Daneben bildete sie sich zur Experimentalfilmerin aus.
1992 zog sie nach New York, studierte soziale und politische Theorie und drehte Dokumentarfilme. Über homosexuelle weisse Yuppies, die schwarze Viertel gentrifizieren («Flag Wars»), über einen Guantanamo-Häftling («The Oath»). Sie besuchte Abu Ghraib, arbeitete als «embedded journalist» im Irak und ist schon lang mit dem amerikanischen Journalisten, Blogger und Rechtsanwalt Glenn Greenwald befreundet.
Sie bittet Greenwald, mit ihr nach Hongkong zu reisen. Die beiden beobachten und dokumentieren Snowden parallel, was sie tun, ist im Grunde auch ein Akt der Überwachung. Bloss stellen sie sich in den Dienst ihres Gegenstands. Sie machen damit, was sich Snowden von der amerikanischen Regierung zurück wünscht: dass die Gewählten für die Wählenden arbeiten und nicht über ihnen.
Nach Hongkong reist Poitras nach Berlin, sie will in Ruhe und Sicherheit arbeiten. Greenwalds Lebensgefährte, David Miranda, besucht sie. Als er zurück fliegt, wird er in Heathrow neun Stunden lang festgehalten. Am 20. Juli 2013 werden im Keller der «Guardian»-Redaktion mit Bohrer und Schleifmaschinen die Innereien der Computer zerstört, auf denen Snowdens Material gespeichert ist. Ein surreales Spektakel.
Laura Poitras, Glenn Greenwald und der Journalist Jeremy Scahill lancieren am 10. Februar 2014 das Onlinemedium «The Intercept», ein Portal, das für Transparenz und Pressefreiheit einstehen will. Greenwald gewinnt für seine Snowden-Reportage im April 2014 den Pulitzer Prize. Laura Poitras gewinnt jetzt mit grösster Wahrscheinlichkeit einen Oscar. Und Edward Snowden? Gewinnt hoffentlich wieder einmal die Freiheit in jenem Amerika, für dessen demokratische Grundwerte er sich so selbstlos eingesetzt hat.
«Citizenfour» läuft vom 5. bis 11. Februar im Lunchkino im Le Paris, Zürich, ab 19. Februar im Kino.