Zugegebenermassen ist es nicht die klügste Idee, mitten in der Feriensaison das Schloss von Versailles besichtigen zu wollen. Andererseits hat man auch nicht immer Zeit für einen Paris-Trip und da sich der Betrieb an anderen beliebten Touristenattraktionen in der Stadt auch in Grenzen hält, entscheide ich mich während meines Paris-Besuchs für einen Abstecher zu einer der grössten Palastanlagen Europas. Dort hin, wo sich einst der legendäre Sonnenkönig von seinem Hofstaat verwöhnen liess.
Auf dem Weg dorthin sieht es auch noch so aus, als sei das eine super Idee: Im RER C5 – der S-Bahn, die einen fast direkt bis zum Schloss bringt – ist kaum was los. «Bestimmt ist der erste Ansturm längst vorbei», denke ich für mich. Schön wär's! Spätestens als ich an einer Armada von Reisebussen vorbei komme, hätte ich umkehren und lieber mein Glück beim Eiffelturm versuchen sollen.
Mache ich aber nicht. Stattdessen geselle ich mich zu den gefühlten 10'000 Menschen, die sich in einem seltsamen Schlängelsystem gegenseitig über den Vorplatz schieben.
So what's crazier than the over the top-ness of the Palace of #Versailles? The queues of crowds waiting to get in! pic.twitter.com/gFFD1fCJlS
— Mike (@mikeypsn) August 6, 2014
Das heisst: Ich will mich dazugesellen, entdecke dann aber eine Schlange auf der linken Seite des Platzes, die mir kürzer erscheint. In dieser Wartezone verbringe ich eine gute Stunde. Kurz bevor ich das Gebäude, in denen sich die Ticketschalter befinden, erreiche, kommen ein paar Touristen vorbei, die mir mitteilen, dass im hinteren Bereich auch Ticketautomaten stehen.
Also verlasse ich die Schlange, gehe in den hinteren – gut versteckten – Raum, in dem acht Automaten völlig alleingelassen herumstehen, und spare mir damit immerhin die restlichen 30 Minuten Wartezeit. Warum diese Automaten keinen prominenteren Platz haben und auch nicht ausgeschildert sind, weiss der Teufel. Egal, endlich kann es losgehen!
Mit meinem Ticket in der Hand steuere ich geradewegs auf den Eingang zum Schloss draussen auf dem Vorplatz zu. Dort macht mich das Personal jedoch lautstark darauf aufmerksam, dass ich mich gefälligst so wie alle anderen Leute anstellen soll. Aha, das «seltsame Schlängelsystem» ist also für diejenigen, die bereits ihr Ticket gekauft haben.
Jetzt aufgeben ist ausgeschlossen. Nochmals zwei Stunden warten erscheint mir irgendwie auch absurd. Auf «nicht ganz legalem Weg» kürze ich ein paar Mal ab, indem ich mich einfach unter die Leute mische, die schon deutlich weiter vorne anstehen – eine Absperrung zwischen den Reihen gibt es hier nämlich nicht.
Durch diesen kleinen Trick verbringe ich in der zweiten Schlange «nur noch» eine weitere gute Stunde. Mein Tipp: Reihen Sie sich beim Schummeln einfach in einer Gruppe von Asiaten ein – die sind erstens mit ihren Fotoapparaten beschäftigt und zweitens viel zu höflich, um sich zu beschweren. Anders ist das mit den Spaniern ...
Am frühen Nachmittag – nach rund zweieinhalb Stunden warten – kann meine Tour durch das Schloss dann auch schon beginnen. Die nötigen Gerätschaften für einen Audio-Guide sind selbstverständlich längst vergriffen. Egal – man kann ja auch lesen, was auf den Schildern steht. Vorausgesetzt, man schafft es, sich zu einem solchen Schild durchzukämpfen und verfügt über ausreichende Französisch- oder Englischkenntnisse.
Eigentlich hätte ich längst ahnen müssen, wie voll die Räume im Schloss sein würden, aber irgendwie habe ich bis zuletzt gehofft, dass die Leute vielleicht gestaffelt reingelassen werden. Falsch gedacht. Genau wie draussen im Wartebereich schieben sich die Massen in dicht gedrängten Schlangen von Zimmer zu Zimmer. In Sachen Hautkontakt mit verschwitzten fremden Menschen ist die Street Parade ein Witz dagegen.
Wer keine Kraft mehr hat, sich in jedem Raum immer wieder aufs Neue ganz nach vorne zu kämpfen, kann sich auf seine Vordermänner und -frauen verlassen: Mindestens jeder zweite von ihnen hält ein Smartphone, eine Kamera oder ein iPad in die Luft. Und auf den Displays dieser Geräte sieht man dann immerhin achtfach gezoomt, was einen ganz vorne erwarten würde.
Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass draussen in den Gärten deutlich weniger los ist, beziehungsweise sich die Massen dort besser verteilen. «Aber den Spiegelsaal möchte ich schon noch gerne sehen», gibt meine Begleitung zu bedenken. Schade nur, dass wir diesen längst durchquert haben. «Ach so, das war die Selfie-Halle von eben?» Ganz genau.
Totally sums up the trip to Versailles. Selfie pictures in the hall of mirrors. #narcissistic pic.twitter.com/7Fo4QK1eEs
— Jayson Araja (@renzaraja) May 11, 2013
HALL OF MIRRORS SELFIE. Desecrating France's most prized national treasures, one self-take at a time. #Versailles pic.twitter.com/eaOgEkBhvX
— rebjan (@RebJanSmi) October 29, 2013
One month later and still crying. Mirror pics in the Hall of Mirrors, duh. #Versailles pic.twitter.com/48ea3PPvA9
— Julianna Almario (@juliannaalmario) July 30, 2014
Leicht enttäuscht vom bisherigen Aufenthalt begebe ich mich nun also in die endlosen Gärten des Schlosses – und das ist der Ort, den ich von Anfang an und vielleicht sogar ausschliesslich hätte aufsuchen sollen. Die Räumlichkeiten des Schlosses hätte ich wahrscheinlich näher kennengelernt, wenn ich mir einfach im Internet ein paar Bilder angeschaut hätte.
In den Gärten wartet nun aber das grosse Glück auf mich: Unendlich lange Spazierwege, meterhohe Hecken, die eine Art Labyrinth darstellen, versteckte Lautstärker, die die Atmosphäre musikalisch unterstützen und zahlreiche Wasserbecken und Springbrunnen.
Warum jedoch aus keinem einzigen dieser Exemplare Wasser spritzt, verstehe ich nicht so genau. Am fehlenden Budget kann es in Anbetracht der Besucherscharen doch eigentlich nicht liegen. Naja gut, wollen wir uns mal nicht beschweren: Die Springbrunnen, die kein Wasser spritzen, kann ich mir immerhin gut anschauen, ohne dass mir 50 andere Menschen die Sicht versperren.
Kommen Sie aber bloss nicht auf die Idee, sich irgendwo auf die Wiese setzen zu wollen, um den Anblick zu geniessen: Überall im Garten lauern Aufpasser, die einen ermahnen, ehe man es auch nur geschafft hat, sich auf dem Boden niederzulassen.
Dass die Springbrunnen durchaus in der Lage wären, Wasser zu spritzen, zeigt übrigens eine kurze Recherche im Internet: Kaum schickt Modedesigner Carl Lagerfeld seine Models in die Gärten, läuft's.
Wer im Schloss wenig von den Räumlichkeiten sehen konnte, muss einfach nur einen etwa halbstündigen Fussweg auf sich nehmen. Denn hinten rechts in den Gärten befinden sich das «Grand» und das «Petit Trianon». Dabei handelt es sich um eine Erweiterung des Schlosses, im zweitgenannten lebte unter anderem Marie Antoinette.
Die Einrichtung ist ähnlich beeindruckend wie die des Schlosses und hier tummeln sich nicht annähend so viele Besucher. Was vielleicht daran liegen könnte, dass diese Gebäude vom Schloss aus nicht zu sehen und auch nicht wirklich gut ausgeschildert sind. Wenn man keinen Lageplan hat – weil man die Tickets am Automaten gezogen hat – gelangt man, wenn überhaupt, eher zufällig dort hin.
Nachdem ich das «Petit Trianon» besichtigt habe, ist es dann auch schon 18.30 Uhr – um diese Zeit schliessen die Gebäude. Völlig erschöpft vom vielen Stehen, in der Schlange rumgeschubst werden und ausgedehntem Spaziergehen sehne ich mich nach einer Ruhepause im Hotel. Aber dafür muss ich erst mal zurück zum Schloss kommen.
Wie praktisch, dass in den Gärten überall diese total albernen Shuttle-Züge unterwegs sind. Wenn Sie am Anfang noch dachten «Ach quatsch, da sitzen doch nur die Voll-Touris drin», werden Sie spätestens jetzt Ihre Meinung ändern. Blöd nur, dass Sie diese Entscheidung früher hätten treffen sollen – nämlich dann, als Sie noch beim Schloss waren. Denn wer dort kein Ticket erworben hat, darf jetzt – so wie ich – zurück laufen.