Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) steigt erneut steil in den Abstimmungskampf ein: Er teilt auf alle Seiten aus. Gegen die «Gesundheitswirtschaft», gegen die Versicherer und selbst gegen die Kantone. Denn die Prämienzahlenden würden von ihnen «komplett hintergangen».
Aus dem Rundumschlag lässt sich allerdings lesen, dass noch nie eine Gesundheitsreform derart breit getragen wurde: Von Krankenkassen genauso wie von Ärzten, Spitälern und der Spitex, die eine Verbesserung des Systems unterstützen. Zudem zeichnet sich ab, dass es sich auch für die Prämienzahler lohnt, die bei der Umsetzung ab 2028 um 1,5 bis 2,5 Milliarden Franken entlastet würden. Inhaltlich findet sich kaum Angriffsfläche, darum befeuert der SGB nun einen neuen Zahlenstreit – offensichtlich mit dem Ziel, Verwirrung zu stiften.
Das hat System. Bereits bei der Abstimmung über die Pensionskassenreform nutzte der SGB die Fehler, die dem Bund bei der AHV unterlaufen sind, um Zweifel auch im Bereich der beruflichen Vorsorge zu befeuern. Die Botschaft ist klar: Den offiziellen Zahlen ist nicht mehr zu trauen. So sagte Gewerkschafter und SP-Nationalrat David Roth in der SRF-«Arena» zu Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider: «Wenn Ihre Zahlen, je näher wir den Abstimmungen kommen, immer besser werden, sollten die Menschen skeptisch werden!» Es sei nicht das erste Mal, dass das Departement des Innern die Zahlen im Nachhinein anpassen müsse.
Damit griff er die eigene Bundesrätin frontal an. Sie erklärte erbost: «Ich finde es eine Schande, wenn Sie sagen: ‹Es hat schon viele Schwierigkeiten mit Zahlen gegeben›.» Eine plötzliche Verbesserung der Zahlen gebe es nicht. Dabei stritt Baume-Schneider nicht ab, dass es bei den AHV-Prognosen Fehler gegeben habe. «Aber es hat nichts, absolut nichts mit dieser Abstimmung zu tun. Ich finde das unkorrekt!»
Ironischerweise verwendet auch der Gewerkschaftsbund offizielle Zahlen des Bundes. Sie sind einfach alt.
Um den Konflikt besser zu verstehen, muss man wissen, wie die Reform entstanden ist. Am Anfang stand das starke Kostenwachstum im ambulanten Bereich, das direkt auf die Prämien umschlägt. Denn ambulante Leistungen sind zu 100 Prozent über Krankenkassen finanziert. Das Parlament entschied schon 2009, dass sich die Kantone stärker an diesen Kosten beteiligen müssen.
Die einheitliche Finanzierung soll bewirken, dass unabhängig davon, wo Kosten entstehen, Krankenkassen und Kantone gleichermassen zahlen müssen. Zur Berechnung eines Verteilschlüssels dienten die Daten von 2016 bis 2019. Im Schnitt dieser Jahre zahlten die Krankenkassen 73,1 Prozent, die Kantone 26,9 aller Leistungen. Dieser Verteilschlüssel gilt nun auch bei der Umsetzung der Reform 2028, also neun Jahre später.
Derweil entwickeln sich die Kosten jedoch weiter stark zulasten der Prämienzahlenden. Gleichzeitig ziehen sich die Kantone aus der Verantwortung zurück (siehe Grafik). Der Grund für das Ungleichgewicht ist einfach: Der ambulante, prämienfinanzierte Bereich wächst seit Jahren überproportional. Der stationäre Bereich, den die Kantone mehrheitlich finanzieren, macht hingegen kleinere Wachstumsschritte.
Diese Entwicklung erleben wir weiterhin und sie hört auch 2025 oder 2028 nicht auf. Der Anteil, den die Versicherten über die Krankenkassen zahlen, steigt, der Anteil der Kantone sinkt. Weil nun aber bei der Reform der Verteilschlüssel aus den Jahren 2016-2019 beigezogen wird, dreht dieses Rad bei der Inkraftsetzung des neuen Systems um fast ein Jahrzehnt zurück – zugunsten der Prämienzahlenden. Gemäss Schätzungen werden sie um rund 2 Milliarden entlastet. Der Bund hat diese Zahlen plausibilisiert. Doch er macht keine eigenen Berechnungen, weil er das Zahlenchaos nicht befeuern will.
Das nutzen die Gewerkschaften aus. Sie machen zwar mit offiziellen Daten Kampagne, aber sie ordnen sie nicht ein. 2019 hätten «nur» Prämienzahlende in neun Kantonen von der Umstellung profitiert, beispielsweise im Tessin, in Genf oder in der Waadt. Im Gegenzug hätten die Prämienzahlenden in den anderen Kantonen einen Nachteil bei der Umsetzung erfahren – wenn man nur auf das Jahr 2019 blickt.
Doch wie bereits erläutert: Die von den Kassen getragenen Kosten im ambulanten Bereich stiegen seither stark, allein zwischen 2019 und 2022 um 3 Milliarden Franken (plus 11 Prozent). Bis zu einer Umsetzung der Reform 2028 käme es deshalb laut Bundesrat in «fast allen» Kantonen zu einer Prämienentlastung.
Der Bundesrat nimmt als Beispiel den Kanton Thurgau, wo die Prämienzahlenden den «vergleichsweise tiefen Anteil von 70,9 Prozent der Kosten» finanzierten, der Kanton also fast 30 Prozent. Gemäss Bund dürfte auch im Thurgau «die Reform 2028 und auch 2032 zu einer Entlastung der Prämienzahlenden führen», weil sich die Kosten dermassen in den ambulanten Bereich verlagern.
Als Argument bleibt den Gegnern also hauptsächlich die Frage, was mit der Integration der Pflege ab 2032 passiert. Dann werden nämlich auch pflegerische Leistungen über den einheitlichen Verteilschlüssel finanziert. Auch hier argumentieren die Gewerkschaften mit massivem Wachstum. Und das stimmt auch, wie die Grafik mit aktuelleren Zahlen zeigt. Nur ist es im Vergleich zum Kostenblock ambulant, wo heute alleine die Prämienzahlenden die Rechnungen schultern müssen, ein Klacks. (aargauerzeitung.ch)
Da die Kantone als Besitzer der öffentlichen Spitäler und die Privatspitäler ein ökonomisches Interesse an einer guten Spitalbelegung haben, und die Kantone gemäss EFAS nur noch 26,9% - statt den bisherigen 55% - der Kosten übernehmen müssten, käme es nicht zur erwünschten Verlagerung von einer stationären zu einer ambulanten Behandlung.
Zusätzlich käme es mit EFAS zu vermehrten (unnötigen) Hausarztbesuchen, weil die Kantone rund einen Viertel der ambulanten Kosten übernehmen würden.
Auch bei der Langzeitpflege entlasten sich die Kantone auf Kosten der Selbstzahlenden und der Krankenkassen. Diese Kosten werden wegen der Überalterung der Gesellschaft in Zukunft noch ansteigen.
Nein zu dieser Mogelpackung!