Bis 1942 machte sich in der Schweiz strafbar, wer mit einem Menschen des gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vollzog. Bei der Abschaffung des Verbots war unser Land vergleichsweise fortschrittlich, aber die gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität liess noch lange danach zu wünschen übrig. Der preisgekrönte Film «Der Kreis» zeigt dies auf sehr anschauliche Weise.
Bis 1990 galt für Homosexuelle ein höheres Schutzalter (20 Jahre) als für den Geschlechtsverkehr von Frau und Mann (16). Seither wurde die Schweiz in manchen Bereichen von anderen Ländern überholt, etwa bei der Ehe für alle. Vor diesem Hintergrund stimmen wir am 9. Februar über die Ausweitung der Anti-Rassismus-Strafnorm auf schwule, lesbische und bisexuelle Menschen ab.
Der Abstimmungskampf verläuft seltsam und vorab im virtuellen Raum. «Klassische» Inserate und Plakate sieht man kaum – die Gegner der Vorlage vorab aus rechtsbürgerlichen und evangelikalen Milieus wollen ja nicht als homophob gelten. Zu ihnen gesellt sich eine Spezies Mensch, die über diesen Verdacht grundsätzlich erhaben ist und aus Prinzip mit Nein stimmen will.
Sie fühlt sich aufgrund ihrer liberalen bis libertären Gesinnung dazu berufen, sich gegen die aus ihrer Sicht unzulässige Einschränkung der Meinungsfreiheit zu wehren. Neben gewissen Jungfreisinnigen gehört dazu etwa ein Redaktor der «NZZ am Sonntag», der in einem Leitartikel mahnt, das Strafrecht sei «schlecht dazu geeignet, Werte wie Anstand und Respekt zu verbreiten».
«Es muss erlaubt sein, auch dumme Sachen zu sagen», sagte der Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni dem «Blick». Er stellt sogar die Anti-Rassismus-Strafnorm an sich in Frage. Das beste Rezept gegen eine dumme Meinung sei eine gescheite Gegenmeinung.
Ich kenne diese Ansicht sehr gut, denn ich habe lange genau so gedacht. Die Einführung der Anti-Rassismus-Strafnorm 1994 hatte ich befürwortet, doch später wurde ich unter anderem durch einen längeren Aufenthalt in den USA zu einem überzeugten Verfechter einer uneingeschränkten Meinungsfreiheit. Rassismus sollte man mit Argumenten bekämpfen, nicht mit Paragraphen.
Zum erneuten Umdenken brachte mich eine Erkenntnis: Diese Vorstellung von Meinungsfreiheit ist der «Luxus» eines weissen heterosexuellen Mannes. Also jener Art Mensch, die Rassismus, Sexismus und Homophobie in der Regel nur vom Hörensagen kennt und praktisch nie damit konfrontiert ist. Ausser man wird in einem Streit mal als «Schwuchtel» beschimpft.
Wirklich betroffen aber ist man nicht, und so weit ich es beurteilen kann, sind auch die erwähnten Gegner eines verstärkten Rechtsschutzes für LGBTI-Menschen weisse heterosexuelle Männer. Aus ihrer Perspektive lässt sich sehr leicht oder vielmehr leichtfertig die Beschimpfung und Erniedrigung von «Andersartigen» als Ausdruck von freier Meinungsäusserung verteidigen.
Wer öffentlich zu Hass oder Diskriminierung von Homosexuellen aufrufe, riskiere die gesellschaftliche Ächtung, wird als Rechtfertigung angeführt. Als Beispiel wird gerne der frühere Zürcher SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi genannt, der bei gleichgeschlechtlichen Paaren «einen Hirnlappen, der verkehrt läuft» diagnostizierte und dafür einen mächtigen Shitstorm erntete.
Doch das Beispiel «verhebt» nicht. Bortoluzzi ist eine öffentliche Figur und damit entsprechend exponiert. Die ganz alltägliche Abneigung gegen Schwule, Lesben und Transmenschen aber ist erschreckend verbreitet. Man kann sogar eine These riskieren: Während Rassismus heutzutage verpönt ist, geniesst Homophobie zumindest unterschwellig eine gewisse Akzeptanz.
Wer es nicht glaubt, soll diese Erfahrungen zur Kenntnis nehmen, die die gewiss unverdächtige NZZ von ihren Instagram-Nutzern geschildert erhielt. Sie zeigen, dass man bald 80 Jahre nach der «Legalisierung» nach wie vor ein Risiko eingeht, wenn man sich öffentlich als homosexuell zu erkennen gibt. Es reicht von abschätzigen Bemerkungen bis zu körperlichen Übergriffen.
Der Grund für diese Entwicklung lässt sich auf einen vereinfachten Nenner bringen: Dunkle Haut färbt nicht ab. Bei Homosexualität aber geht es um unsere Intimsphäre, das «beste Stück» des Mannes. Das jagt vielen Angst ein. Weshalb hirnverbrannte Ansichten, etwa dass schwule Lehrer ihre Schüler «umpolen» könnten, selbst in den Köpfen aufgeklärter Menschen herumspuken.
Die erweiterte Strafnorm wird keine Wunder bewirken. Aber sie könnte die Sensibilität für den Umgang mit LGBTI-Menschen erhöhen. Die relativ geringe Zahl der Verurteilungen unter der heutigen Rechtsetzung lässt darauf schliessen, dass beim Thema Rassismus eine gewisse Entwicklung in diese Richtung stattgefunden hat. Man achtet heute mehr auf seine Worte.
Das stellt entgegen den häufigen Klagen vorab aus der rechtspopulistischen Ecke («Das wird man wohl noch sagen dürfen!») keine Einschränkung der Meinungsfreiheit dar. Sie zwingt uns vielmehr zu einem bewussteren Umgang mit diesem Grundrecht, das in der Tat geschützt werden muss. Das müssten gerade wir Journalisten wissen, denn wir leben von freier Meinungsäusserung.
Schutz verdienen aber auch verletzliche Menschen, und so lange Homophobie als eine Art «Kavaliersdelikt» gilt, ist die Ausweitung der Anti-Rassismus-Strafnorm ein notwendiges Übel. «Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet», schrieb der deutsche Dichter und Aufklärer Matthias Claudius. Das gilt auch für weisse heterosexuelle Männer.
Alte, weisse, heterosexuelle Männer werden vor Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung geschützt, wenn es dazu kommen sollte.
Leute - so können wir auf Dauer miteinander nicht umgehen.