Zahlreiche Tabus sind in den letzten Jahrzehnten gefallen. Eines aber bleibt quicklebendig: Die Schweiz soll sich aus internationalen Konflikten heraushalten und eigenständig verteidigen. «Bewaffnete Neutralität» nennt sich dieses Konzept. Es bildet die Grundlage für die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge, über die wir am 27. September abstimmen.
Ihr Stellenwert hat in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen. Dies zeigt sich in der jährlichen Sicherheitsstudie der ETH Zürich. In der aktuellen Erhebung, die im Januar – also vor Ausbruch der Corona-Pandemie – bei 1227 Stimmberechtigten durchgeführt wurde, befindet sich die Zustimmung zur Neutralität mit 96 Prozent auf einem Allzeithoch.
Ein Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis (Nato) ist mit 20 Prozent ähnlich (un-)beliebt wie jener zur Europäischen Union. Immerhin 36 Prozent der Befragten befürworten eine Annäherung an die Nato. Eine signifikante Minderheit scheint zumindest zu ahnen, dass die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz begrenzt ist. Das betrifft nicht zuletzt den Luftraum.
Die Schweiz ist klein. Ein Hochleistungs-Kampfjet wie die amerikanische F-35 oder die russische SU-57 düst in wenigen Minuten vom Boden- zum Genfersee. Ohne Informationen aus benachbarten Ländern und vor allem von der Nato hätte die Schweiz keine Chance, ein im Anflug befindliches Objekt abzufangen, ob mit Jets oder Raketen.
«Die Idee von einer möglichst autonomen Verteidigung der Schweiz ist ein Scherz», sagte ein Schweizer Ingenieur, der in der Kampfjetindustrie geforscht habe, gegenüber CH Media. Das Verteidigungsdepartement VBS aber hält im Abstimmungskampf daran fest. Es blende die Abhängigkeit von der Nato aus neutralitätspolitischen Gründen aus, kritisierte der Ingenieur.
Diese Abhängigkeit besteht nicht nur strategisch, sondern auch technologisch. In diesem Bereich sei sie sogar grösser geworden, schreibt CH Media unter Berufung auf eine Quelle aus der Luftwaffe. Im Klartext: Bei modernen Hightech-Waffensystemen geht ohne die USA gar nichts. Nur dank ihrer Technologie wären etwa die F/A-18 im Ernstfall voll einsatzbereit.
Ohne Datenaustausch mit der Nato kann die Schweiz weder ihre Luftwaffe einsetzen, noch das neue System zur bodengestützten Luftverteidigung (Bodluv), das in einem nächsten Schritt beschafft werden soll. Der scheidende Luftwaffenchef Bernhard Müller aber vollführte im Interview mit CH Media bei den Fragen zur Nato-Abhängigkeit einen veritablen Eiertanz.
Es könne niemand sagen, wie die Welt in 30 Jahren aussehe, betonte Müller: «Ob es die Nato dann noch gibt.» Tatsächlich hat das Bündnis bessere Zeiten gesehen. US-Präsident Donald Trump hat es als «veraltet» bezeichnet. Im Südosten verschärft sich der Konflikt zwischen den Nato-Ländern Griechenland und Türkei, sogar ein Krieg scheint möglich.
Anders sieht es im Nordosten aus. Nach russischen Provokationen über der Ostsee während der Ukraine-Krise 2014 kam es in Finnland und Schweden zu Debatten über einen möglichen Nato-Beitritt. Die Zusammenarbeit wurde seither intensiviert. Auch in unserem neutralen Nachbarland Österreich wird viel offener über die Nato geredet als in der Schweiz.
Dabei waren wir im Kalten Krieg faktisch ein Teil des westlichen Verteidigungsbündnisses und profitierten als «Trittbrettfahrer» von seinem – atomaren – Schutzschirm. 1956 stellte Verteidigungsminister Paul Chaudet laut der NZZ den Briten einen Anschluss der Schweiz an die westliche Allianz in Aussicht, sollte in Europa «je ein Krieg ausbrechen».
So weit kam es nie, aber die Schweiz blieb militärisch im atlantischen Lager verankert. Rüstungsgüter wurden in den USA und Westeuropa eingekauft. Ein Nato-Beitritt kam trotzdem nicht in Frage, wegen der Beistandspflicht im Fall eines Angriffs auf ein Mitglied. Die USA beanspruchten sie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
In den 90er Jahren kam es zu einer Annäherung. 1996 beteiligte sich die Schweiz an der neuen Partnerschaft für den Frieden. Das sichtbarste Zeichen ist die Swisscoy-Kompanie, mit der die Schweiz seit Jahren die Nato-Mission im Kosovo (KFOR) unterstützt. Ausserdem waren bis 2008 Schweizer Offiziere in Afghanistan stationiert.
Schweizer Kampfpiloten trainieren in Nato-Ländern und beteiligen sich an Übungen des Bündnisses. Für NZZ-Chefredaktor Eric Gujer wäre deshalb eine intensivere Zusammenarbeit mit der Nato vernünftig: «Dies ist allerdings wegen der orthodoxen Auslegung von Neutralität ausgeschlossen.» Für rechte Isolationisten wie linke Pazifisten bleibt die Nato ein rotes Tuch.
Ein Nein zur Kampfjet-Vorlage könnte das Tabu durchbrechen, denn in diesem Fall steht die Luftverteidigung zur Disposition. Die Zürcher SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, die sich an vorderster Front für ein Nein einsetzt, würde dies begrüssen: «Wir müssen eine Debatte über unsere Beziehung zur Nato führen», sagte sie im Gespräch mit watson.
Die Sicherheitspolitikerin ist sich bewusst, dass es im Nein-Lager Differenzen zwischen der «pragmatischen» SP und den Grünen oder der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) gibt: «Die SP hat weniger Skepsis gegenüber der Nato.» Sie sei bereit, einen Beitrag zur gemeinsamen Luftsicherung zu leisten, «einfach mit leichten Kampfjets», so Seiler Graf.
Unterschiedliche Ansichten gibt es auch bei den Befürwortern. Die NZZ fordert eine vertiefte Strategiedebatte. Sie wäre «eine neue Chance, die bewaffnete Neutralität weiterzudenken». Rechtsbürgerliche dürften dafür kaum zu haben sein, doch beim Typenentscheid müsste die Schweiz Farbe bekennen, vor allem wenn die F-35 oder die Super Hornet zum Zug käme.
Nach Ansicht von Experten wäre die Schweiz in diesem Fall vollkommen abhängig von den USA. Sie würde «die Kontrolle über ihre Luftwaffe abgeben», so CH Media. Bei der französischen Rafale oder dem Eurofighter von Airbus hätte die Schweiz wohl mehr Spielraum, aber Hersteller und Nato hätten weiterhin einen beträchtlichen Einfluss.
Die bewaffnete Neutralität wird im Hightech-Zeitalter immer mehr zur inhaltsleeren Floskel. Das gilt auch und gerade für zeitgemässe Bedrohungsformen wie Terrorismus und Cyberattacken. Ohne geheimdienstliche und militärische Zusammenarbeit mit dem Ausland steht die Schweiz auf verlorenem Posten. Eine ehrliche Debatte darüber ist überfällig.
Viola Amherd nannte es eine Grundsatzfrage, und man müsse bei einem Nein über die Bücher.
Wenn man es so simpel sehen möchte, ohja, gerne, geht über die Bücher anstelle einen Scheck einzufordern wie anno dazumal.