Wenn ein Virus rund um den Globus Menschen an Beatmungsgeräte bringt, rückt das Gesundheitspersonal in den Fokus. Nur sie wissen, wie die Schläuche richtig befestigt werden und lebensrettender Sauerstoff in die Lungen gepumpt wird.
Pflegende retten Leben. Tag für Tag. Dabei krankt das Pflegewesen selbst an einem chronischen Leiden: dem Mangel an Fachkräften. Dass Wunden dennoch versorgt, Stürze von Betagten verhindert und Krankheitsverläufe dokumentiert werden, ist zu einem grossen Teil Frauen zu verdanken. In den Pflegeberufen beträgt ihr Anteil rund 85 Prozent.
Seit Jahrzehnten prägen sie den Beruf. Als Pionierin gilt die Engländerin Florence Nightingale. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sie sich für eine professionelle Krankenpflege ein und definierte Ausbildungsstandards. Nightingale erkannte die zentrale Rolle der Hygiene und plädierte für das genaue Beobachten der Patienten. Sie kam heute vor 200 Jahren zur Welt. Zu ihrer Ehre wird am 12. Mai der Internationale Tag der Pflege gefeiert.
Anlässlich des Jubiläums von Nightingales Geburtstag hat die Weltgesundheitsorganisation WHO 2020 zum «Year of the Nurse» ausgerufen. Damit will die WHO nicht nur das Ansehen der Pflegefachleute fördern, sondern auch auf deren globalen Mangel aufmerksam machen. Im letzten Jahr fehlten weltweit sechs Millionen Pflegende. Am stärksten trifft dies Länder mit tiefen und mittleren Einkommen.
Besser bezahlt, schieben sie ihre Überstunden unter anderem in der Schweiz. Gemäss Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) sind zwischen 30 und 40 Prozent des hiesigen Pflegepersonals zugewandert oder sie überqueren auf dem Arbeitsweg eine Landesgrenze. «Das birgt erhebliche Risiken. Hätten Frankreich oder Italien während der Pandemie ihre Fachleute im eigenen Land eingefordert, wäre unser Gesundheitswesen zusammengebrochen», sagt Ribi.
Eine hohe Arbeitsbelastung prägt das Pflegewesen seit dem Aufkommen der modernen Medizin. Das zeigt ein Blick in die Geschichte. Zwar hat sich das Pflegewesen in den vergangenen hundert Jahren tiefgreifend verändert. Geblieben sind jedoch Zeitnot und Erschöpfung des Personals. Hängen heute viele ihren Kittel nach einigen Berufsjahren an den Nagel, starben Pflegerinnen früher teilweise an der Überbelastung.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts kümmerten sich in der Schweiz vor allem Klosterfrauen um Kranke und Verletzte. Danach wurde die Pflege der Medizin zugeordnet. Dennoch blieben die Ordensfrauen eine zentrale Stütze im Gesundheitswesen. 1942 stellten sie etwas mehr als die Hälfte aller Pflegerinnen. Auf sie geht der Begriff «Krankenschwester» zurück, der noch bis Anfang des 21. Jahrhunderts als offizielle Bezeichnung galt.
Die Berufskrankenpflege ist eine Folge der Etablierung der modernen Medizin, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasant an Fahrt aufnahm. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) gründete ab 1899 erste Pflegerinnenschulen. Kurz darauf ernannte der Bund das SRK als Zentralinstanz der Schweizer Pflegeausbildung. Genehmigte es die Ausbildung anderer Schulen, erhielten diese Subventionen des Eidgenössischen Militärdepartements.
Im Gegenzug verpflichteten sich die Schulen, im Kriegsfall zwei Drittel der Ausgebildeten der Armee zur Verfügung zu stellen. Ein Deal, der noch Jahrzehnte später galt. Die Berner Pflegefachfrau und Soziologin Barbara Dätwyler begann ihre pflegerische Ausbildung 1969 – und wurde dabei ausgehoben: «Wir erhielten eine massgeschneiderte Uniform. Mit dem Diplom gehörten wir im Status eines Korporals zur Armee.»
Während in den Städten «Make love, not war» propagiert wurde, herrschten im Internat der Pflegeschülerinnen und in den Spitälern strenge Regeln und Hierarchien. Herrenbesuche waren verboten, ebenso Pfeifen und Rennen auf dem Areal.
Lange Zeit schienen Frauen für den Beruf der Krankenschwester wie gemacht: aufopfernd, hingebungsvoll und geduldig. «Diese äusserlichen Zuschreibungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Frauenberuf in sich von Anfang an emanzipiert war», sagt Dätwyler. Bereits die Ordensfrauen hätten ihr altes Wissen und Können in die Pflege eingebracht. Später bot der Beruf den Frauen eine Alternative zu Familie und Kindern. Der Job ermöglichte ihnen eine Karriere und die Option, im Ausland zu arbeiten.
Doch der Alltag in der Pflege war von harter Arbeit und Selbstlosigkeit geprägt. Das zeigt die Forschung von Soziologin Dätwyler, die in Interviews die Lebenswelten von Krankenschwestern zwischen 1930 und 1970 ausleuchtete. Die Frauen schildern, wie sie auf ihrer Spitalabteilung wohnten – zum Teil in einem Zimmer zwischen Patienten. Anders gestaltete sich die Wohnsituation der rund zehn Prozent männlichen Pfleger. Waren sie ledig, lebten sie in der Regel in ihrem Elternhaus, sonst mit ihrer eigenen Familie in der Nähe ihres Arbeitsorts.
Für die Pflegerinnen waren Privat- und Berufsleben untrennbar miteinander verknüpft. Sie standen ihren Patienten praktisch rund um die Uhr zur Verfügung. Eine Pflegerin beschreibt etwa, wie sie mit einem schwer kranken Kind wochenlang in einem Dachzimmer lebte, um es zu vorsorgen. Als es eine Entzündung bekam, musste sie stündlich Wickel wechseln. Ohne Schichtwechsel, Tag und Nacht.
Eine Umfrage in sämtlichen Spitälern und Sanatorien im Jahr 1940 zeigte: Im Schnitt arbeiteten die Frauen zwischen 75 und 80 Stunden pro Woche. Dennoch drängten sie nicht auf eine Veränderung der Verhältnisse. Im Zentrum stand die Pflege, nicht die eigenen Arbeitsbedingungen. Auf dieses Berufsverständnis traf Dätwyler während ihrer Ausbildung: «1969 war es unter Krankenschwestern noch recht verpönt, Anspruch auf seine Freizeit zu äussern», sagt sie.
Grundlegende Neuerungen zeichneten sich aufgrund des Personalmangels in den 1970er-Jahren jedoch ab: Pflegerinnen zogen vom Spital ins Personalhaus und ihre Löhne stiegen sprunghaft an. Um den Beruf attraktiver zu machen, seien für das Pflegepersonal eigene Hallenbäder gebaut worden, sagt Dätwyler.
Längst musste sich dieses nicht mehr um die Hausarbeit im Spital kümmern. Vielmehr übernahm es immer komplexere und anspruchsvollere medizinische Aufgaben. Rosig war dennoch nicht alles: «In der Hochkonjunktur fehlten nicht mehr die Mittel, aber das Personal und somit auch die Zeit für die Patienten», sagt Dätwyler.
Gespart wird im Pflegebereich wieder seit den 1990er-Jahren. Damals begann die Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Der wirtschaftliche Druck und die hoch spezialisierte Medizin führen heute zwar dazu, dass Patienten weniger lang im Spital bleiben. Das bedeute für die Pflege aber keine Entlastung, sagt SBK-Geschäftsführerin Ribi: «Die Patienten befinden sich fast nur noch in hochakuten Zuständen in den Spitälern. Die Pflege ist dadurch viel intensiver und aufwendiger geworden. Trotzdem haben sich die Stellenprozente kaum verändert.»
In den vergangenen Wochen hat das Coronavirus die Bedeutung des Gesundheitspersonals aufgezeigt. Die Pflegenden gelten als Helden der Krise und lesen auf ihrem Heimweg «Danke. Merci. Grazie. Grazia» auf Plakaten. Wer mit Pflegenden spricht, erfährt: Die Anerkennung tut gut. Doch sie löst keine grundsätzlichen Probleme.
Gemäss Jobradar sind aktuell rund 11'000 Pflegestellen offen. Eine Entspannung der Situation zeichnet sich nicht ab. Im Gegenteil. Um eine ausreichende Versorgung garantieren zu können, müssten in den nächsten zehn Jahren 65'000 Pflegende zusätzlich ausgebildet werden. «Machen wir weiter wie bisher, schaffen wir nicht mal die Hälfte», sagt Ribi. Auch die Arbeitsbedingungen müssten sich verbessern, fordert sie. Fast jede Zweite steigt vorzeitig aus dem Beruf aus, viele bereits einige Jahre nach ihrer Ausbildung. Häufig aufgrund emotionaler Erschöpfung.
............ und schlechte Bezahlung.