«Der Städteverband fordert auf allen Strassen im Siedlungsgebiet Tempo 30, auch auf Hauptstrassen», meldete die «NZZ am Sonntag» vor knapp einer Woche. In den Leserkommentaren war bald klar: Die rot-grünen Städte wollen den motorisierten Individualverkehr noch weiter ausbremsen, es ist ein weiterer Angriff auf Autopendler und Gewerbler aus der Agglomeration und vom Land.
Doch die Sichtweise, dass bei Tempo 30 ein Stadt-Land-Graben besteht, ist falsch. Tatsächlich hat sich Tempo 30 von den Zentren über die Vororte längst in ländliche Dörfer ausgebreitet. Das zeigen etwa Karten der Kantone Zürich, Genf oder der beiden Basel. So gilt beispielsweise im Dorfkern von Russin (GE) seit 2019 Tempo 30. Zur Einordnung: Russin besteht zu 97 Prozent aus Wald- und Landwirtschaftsfläche.
In Baselland haben mehrere Gemeinden im Laufental und in den Juratälern grossflächig Tempo-30-Zonen ausgeschieden. Das gleiche Bild zeigt sich in Zürich vom Weinland bis ins Oberland. Illnau-Effretikon, die Agglomerationsgemeinde zwischen Zürich und Winterthur, weist gemäss einer Analyse des Bundesamts für Statistik (BfS) sogar einen Spitzenwert aus: Auf 96.1 Prozent der Gemeindestrassen gilt hier laut BfS Tempo 30.
Die Städte haben zwar mehr Tempo-30-Zonen. Doch ist derzeit die Dynamik in ländlichen Gebieten grösser – sie holen auf. Das beobachtet Michael Rytz vom Verkehrsclub Schweiz (VCS). Er berät Personen, die in ihrer Gemeinde oder dem Quartier Tempo 30 einführen möchten: «Wir haben in letzter Zeit mehr Anfragen vom Land als aus der Stadt.»
Ähnliches beobachtet Andreas Stäheli vom Ingenieurbüro Pestalozzi & Stäheli GmbH in Basel. Das Unternehmen berät Gemeinden in der Verkehrsplanung. «Die Städte waren Vorreiterinnen», sagt Stäheli. Auch viele Agglomerationsgemeinden hätten die geeigneten Zonen inzwischen weitgehend ausgeschieden. Doch auf dem Land zeigten sich nun ähnliche Bedürfnisse wie in den Zentren: «Erste Priorität hat immer die Sicherheit, insbesondere für den Schulweg.» Dies stärke den Wunsch nach Tempo 30 in Dörfern, auf verkehrsorientierten Strassen innerorts. Also auch auf Hauptstrassen.
Die Diskussionen auf dem Land sind meist die gleichen wie in den Städten: Wir fahren auf Quartierstrassen eh nicht schnell, wozu also Tempo 30 einführen? Kritisiert wird auch der Zeitverlust, wenn statt 50 nur noch 30 gefahren werden darf. «Mit knapp fünf Sekunden Zeitunterschied auf 100 Meter fällt dieser in Dörfern ohnehin weniger ins Gewicht», sagt Stäheli, «denn hier sind die Strecken mit Tempo 30 in der Regel kürzer als in den Städten.» Beide Experten stellen fest: Oft steige die Akzeptanz von Tempo-30-Zonen, nachdem sie eingeführt seien und erlebt werden könnten.
Offensichtlich steht bei der Verkehrsberuhigung nun aber schon die nächste Welle an: die Einführung von Begegnungszonen. Also Bereiche mit Tempo 20, wo Fussgängerinnen und Fussgänger gegenüber dem rollenden Verkehr Vortritt haben. In den Grossstädten gibt es schon Dutzende solcher Zonen, wo beispielsweise Kinder auf den Quartierstrassen spielen können.
Doch dieses Konzept erfreut sich auch in Dörfern und Kleinstädten steigender Beliebtheit – unabhängig von den politischen Verhältnissen. So kämpft etwa in Lengnau im Aargau der Gemeinderat mit einer SVP-FDP-Mehrheit geschlossen dafür, im Dorfzentrum eine Begegnungszone nach einer Testphase definitiv einzuführen. Auf begegnungszonen.ch finden sich weitere Beispiele von Begegnungszonen, sei es in historischen Stadtzentren wie Liestal, bei Bahnhöfen wie in Männedorf (ZH) oder auf Kantonsstrassen wie in Büren (BE).
«Wichtig ist, dass nicht beliebig Strassen zu Begegnungszonen umgestaltet werden», sagt Experte Stäheli: «Es müssen Orte sein, an denen ganzjährig Begegnungen auch tatsächlich stattfinden.» Wichtig sei, alle betroffenen Kreise früh in die Planung einzubeziehen. Zum Beispiel den Bauern, der fürchtet, dass er mit seinen landwirtschaftlichen Fahrzeugen nicht mehr durch verkehrsberuhigte Strassen fahren könnte.
Gerade auf solche Bedürfnisse sei Rücksicht zu nehmen, sagt Stäheli: «Anspruchsvoll werden die Diskussionen, wenn aus der Stadt ins ländliche Dorf zugezogene Eltern Ansprüche an die Verkehrsberuhigung und Schulwegsicherheit stellen, gleichzeitig aber mit dem eigenen Auto unterwegs sind und Kinder in die Schule fahren.»
Übrigens: Erfunden wurde die Begegnungszone nicht in Zürich, Basel oder Bern – sondern im beschaulichen Burgdorf im Emmental: 1996 wurde der «Flanierzonenversuch» im Bahnhofsquartier gestartet, aus dem sich die erste Begegnungszone der Schweiz entwickelte.
Was damals einen grossen baulichen und administrativen Aufwand erforderte, ist heute viel einfacher und günstiger zu realisieren: «Die Auflagen des Bundes an die verkehrsberuhigenden Massnahmen sind heute viel geringer als damals, weil die Gemeinden wissen, was sinnvoll ist», sagt Stäheli. Die Voraussetzungen sind also gegeben, dass sich Tempo 20 weiter ausbreitet – in der Stadt und dem Land. (aargauerzeitung.ch)
Für mich sind Begegnungszonen ok. Auch viel befahrene Ortsstrassen kann man beruhigen. Aber niemand will flächendeckend Tempo 30 oder sogar 20. Das sind einfach Erfindungen.