Anne Kearns, 69 Jahre alt, dachte, die beste Zeit ihres Lebens werde das Pensionsalter. Endlich werde sie Zeit haben für ihre Leidenschaften: Reisen, Klavierspielen und Singen. Sie nahm an, um Geld werde sie sich keine Sorgen machen müssen, da sie geerbt hat.
Es kam anders. Inzwischen arbeitet sie wieder, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Denn ihr gesamtes Vermögen hat sie durch einen Betrugsfall verloren.
Kearns ist eine britische Psychotherapeutin und wohnt in Frankreich. Sie dachte, ihr Geld sei in der Schweiz besonders sicher, und eröffnete deshalb hier ein Konto.
Ihre Geschichte erzählt sie in einem Videoanruf. Sie blickt in die Kamera und sagt:
Erst durch einen Suizid merkte sie, dass ihre Altersvorsorge verschwunden war. Ihr Portfoliomanager hatte sich das Leben genommen. Er hinterliess einen Abschiedsbrief, ein paar eilig hingekritzelte Worte auf einem weissen Blatt Papier. Er schrieb:
«Liebe Alle, eine kurze und kalte Nachricht, aber was kann man schon in einer solchen Nachricht sagen. Ich weiss, dass ich alle verraten habe. Ich trage die ganze Last meiner Schuld und glaube, dass ich Verantwortung übernehmen muss. Das bedeutet, für meine Vergehen mit meinem Leben zu bezahlen. Wie in alten Zeiten.»
Der Finanzjongleur hatte selbst seine Ehefrau getäuscht und auch das Geld ihrer Familie verjubelt. Zu den Betrugsopfern gehören zudem eine bekannte deutsche Fernsehmoderatorin und ein Ex-CEO einer Telekommunikationsfirma. Sie alle erfuhren durch den Abschiedsbrief, dass sie sich von einem Hochstapler täuschen liessen.
Anne Kearns lernte den Mann über eine Freundin kennen. Er trat so charmant und überzeugend auf, dass sie ihm sofort vertraute. Er eröffnete im Jahr 2005 für sie ein Konto bei der ING Bank in Lausanne, die 2010 von Julius Bär übernommen wurde. Um Steuern zu sparen, ging es ihr dabei nicht. Diese hat sie stets bezahlt, was sie nachweisen kann.
Kearns hatte 1.4 Millionen US-Dollar geerbt. 300'000 wollte sie riskant anlegen, den Rest konservativ. Sie war damit einverstanden, den riskanten Anteil in ein Start-up des Portfoliomanagers zu investieren. Es sollte sich später als Totalverlust entpuppen.
Der Betrüger fälschte jedoch ihre Unterschrift und überwies in ihrem Namen 500'000 weitere Dollar in seine eigene Firma. Der Bankkundenberater bei der ING Bank genehmigte diese Überweisung ebenfalls. Er liess die Unterschrift nicht wie vorgeschrieben kontrollieren, obwohl die Fälschung einfach zu erkennen gewesen wäre. Der Banker verschwieg intern auch, dass er selber familiäre Beziehungen zum besagten Start-up hatte.
Später verkaufte Anne Kearns ihre Wohnung in London für umgerechnet 1.6 Millionen Franken. Auch diese Summe vertraute sie ihrem Portfoliomanager an und beauftrage ihn, das Geld auf das Schweizer Konto zu überweisen und die Steuern zu begleichen. Er überredete sie, die Summe zuerst auf einem anderen Konto bei der gleichen Bank zu überweisen und später wie gewünscht zu transferieren.
Doch der Portfoliomanager leitete auch diese Summe in sein Start-up sowie in eine Firma in Panama um. Für beide Konten war der Schweizer Bankkundenberater ebenfalls verantwortlich. Er genehmigte auch diese Zahlungen. Rückfragen bei der Kundin tätigte er keine.
Als sich der Portfoliomanager 2015 das Leben nahm, rief Anne Kearns bei Julius Bär an und fragte nach, wie es um ihr Vermögen stehe. Erst da erfuhr sie, dass all ihr Geld schon lange weg war. Ihr Konto war nämlich bereits seit drei Jahren geschlossen. Auch dafür hatte der Portfoliomanager ihre Unterschrift gefälscht, was bei Julius Bär angeblich niemandem auffiel. Mit einer gefälschten Unterschrift hatte er die Bank zudem angewiesen, die Post für seine Kundin zurückzuhalten. Deshalb erfuhr sie nie davon.
Das ist noch nicht alles: Anne Kearns hatte eine Kreditkarte, die über das Schweizer Konto lief. Damit nicht auffiel, dass das Konto längst leergeräumt war, überwies der Betrüger jeweils kleinere Beträge von einem anderen Konto, um die Rechnungen zu decken. Auch diese Transaktionen fielen der Bank nicht auf.
Heute wundert sich Anne Kearns, wie sie als Psychotherapeutin auf die psychologischen Tricks eines Betrügers hereinfallen und ihm blind vertrauen konnte. Sie sagt:
Wenn Betrugsopfer wie Anne Kearns mit ihrem Namen und ihrem Gesicht hinstehen und ihre Geschichte erzählen, müssen sie sich oft Kritik anhören. Sie seien dumm oder naiv gewesen, heisst es dann. Psychiater Frank Urbaniok kommentiert diese verbreitete Reaktion auf seinem Blog so: «Das ist nicht nur überheblich, sondern man verkennt damit, dass wir alle in unserem Denken und Handeln sehr stark durch unsere Gefühle beeinflusst werden.»
Anne Kearns ist aber auch überzeugt:
Das Finanzinstitut habe ihren Bankkundenberater einfach machen lassen und nicht interveniert, als er seine Kompetenzen überschritt, weil für die Bank nur eines gezählt habe: möglichst viele vermögende Kunden anzuwerben. Kearns sagt: «Er muss genau gewusst haben, dass ich um mein Vermögen betrogen wurde, und genehmigte die Transaktionen im Wissen darum.» Er hätte mindestens eines tun müssen: sie anrufen und fragen, ob sie mit den seltsamen Überweisungen wirklich einverstanden sei. Doch sie habe nie einen Anruf erhalten.
Der Bankkundenberater ist inzwischen frühpensioniert. Sein Vorgesetzter ist jedoch noch immer bei Julius Bär tätig. Anne Kearns hat den Fall zur Anzeige gebracht. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft führt dazu seit sechs Jahren ein Strafverfahren. Da dieses so lange dauert und der Fall zu verjähren droht, hat Anne Kearns nun auch Zivilklage gegen Julius Bär eingereicht. Sie verlangt 2.7 Millionen Franken Schadensersatz.
Doch die Bank weist alle Vorwürfe an die Absenderin zurück. Julius Bär argumentiert, stets vorschriftsgemäss gehandelt zu haben. Kearns sei selber schuld dafür, dem Portfoliomanager ihr Vermögen anvertraut zu haben. Die Bank stehe dafür nicht in der Verantwortung, da sie nur ein Depotkonto zur Verfügung stellte, mehr nicht.
Öffentlich Stellung nehmen will die Bank auf Anfrage nicht. Auch auf die Frage, ob sie mit der ING Bank grössere Risiken als angenommen übernommen habe, geht sie nicht ein.
Im Zivilprozess ist der erste Schriftenwechsel abgeschlossen. Demnächst soll der Fall vor dem Zürcher Bezirksgericht verhandelt werden. Anne Kearns sagt, sie sei vorsichtig optimistisch, bald einen Teil ihres Vermögens zurückzuerhalten. Sie brauche es dringend, da ihre Lebensgefährtin pflegebedürftig sei und ihre Pensionsgelder nicht ausreichen würden.
Anne Kearns hat auch kein Geld, um ihr Anwaltsteam und die Verfahrenskosten zu bezahlen. Sie hat dafür jedoch eine Prozessfinanzierungsfirma gefunden. Diese erhält bei einem Sieg einen Teil des Erlöses. Bei einer Niederlage geht sie leer aus und bleibt auf allen Kosten sitzen. Solche Firmen übernehmen einen Fall nur, wenn sie davon ausgehen, dass die Klägerin gewinnen wird.
In was für einer Welt leben wir bitte?
Von wegen „Das Wohl unserer Kunden ist uns ein Anliegen“…viel eher das Geld der Kunden wäre es.
Den Grossbanken kann man absolut nicht trauen. Sind Regionale besser bedient?
In diesem Falle läge das Versäumnis von Julius Bär darin, dass sie die verdächtigen Transaktionen nicht geprüft hat. In der Praxis gibt es immer wieder spannende Entscheide, welche Risiken der Kunde im Rahmen von ebanking, E-Mail- und Telefonaufträgen tragen muss. Der vorliegende Sachverhalt ist in dieser Hinsicht spannend.