Der «langsamste Schnellzug der Welt» war für einmal der schnellste: Seit letzter Woche gilt im Glacier Express zwischen St. Moritz und Zermatt die Zertifikatspflicht. Im bei Touristen beliebten Panorama-Zug durch die Bündner und Walliser Berge erhält nur noch Einlass, wer geimpft, getestet oder genesen ist - und dies auch mit einem Schweizer oder EU-Zertifikat nachweisen kann. Es ist die erste Zugverbindung in der Schweiz, welche die auch 3G genannte Regel kennt.
Reisende aus Drittstaaten können ihr Zertifikat online in ein Schweizer Zertifikat umwandeln lassen. Erste Kantone bieten diese Möglichkeit bereits an. Während einer Übergangsphase werden im Glacier Express bis am 10. Oktober auch offizielle Impfzertifikate anderer Staaten wie die US-amerikanische «CDC Card» anerkannt.
Doch wie ist das möglich? Schliesslich gilt die Zertifikatspflicht im öffentlichen Verkehr nicht. Der Glacier Express ist allerdings kein normaler Zug: Sein Angebot richtet sich vor allem an Touristinnen und Touristen, es gilt eine Reservationspflicht und die herkömmlichen Zugtickets sind nicht gültig. Der Zug ist nicht Teil des konzessionierten Verkehrs und erhält damit von der öffentlichen Hand keine Subventionen, sondern wird eigenwirtschaftlich betrieben. Die Betriebs- oder Beförderungspflicht gelten für den Zug nicht.
Die Betreiber begründen die Einführung der Zertifikatspflicht in einem im Internet aufgeschalteten Papier damit, dass der Glacier Express als Anbieter von gastronomischen Dienstleistungen nicht nur dem Schutzkonzept des öffentlichen Verkehr, sondern auch jenem der Gastronomie unterliegt. Dieses sieht die Zertifikatspflicht vor - wie sie etwa auch in Restaurants gilt.
Im Glacier Express werde im ganzen Zug Essen am Platz angeboten, sagt Yvonne Dünser von der am Glacier Express beteiligten Rhätischen Bahn. Der Bundesratsentscheid habe sehr schnell umgesetzt werden müssen, was nicht einfach gewesen sei. Die Gäste hätten die Massnahmen grossmehrheitlich gut akzeptiert, seien kooperativ und zeigten Verständnis.
Weil die Gäste im Glacier Express vor der Reise ihre Sitzplätze reservieren, hätten diese kontaktiert und über die Änderungen informiert werden können. Die Gäste hätten die Gelegenheit erhalten, umzubuchen oder zu annullieren. «Davon haben einige wenige Gebrauch gemacht», sagt Dünser. «Die Mehrheit der Glacier Express-Reisenden hat ein Zertifikat. Die Zertifikatspflicht bietet auch eine Erleichterung beim Reisen, weil die Maskentragpflicht wegfällt. Internationale Reisende haben zudem meist in anderen Ländern bereits Erfahrungen gemacht mit der Zertifikatspflicht in Restaurationsbetrieben.»
Vorerst dürfte der Glacier Express eine Ausnahme bleiben - aber nur, was den Regelbetrieb angeht. So sind etwa die Rigi-Bahnen weiterhin ohne Zertifikat zugänglich. «Weil wir ein Teil des öffentlichen Verkehrs sind und in Richtung Kaltbad einen Erschliessungsauftrag haben, gilt in den im Fahrplan publizierten Zügen die Maskenpflicht», sagt CEO Frédéric Füssenich. Anders sieht das bei Erlebnisangeboten wie etwa vorab gebuchten Dampffahrten aus: «Dort kommt 3G zum Einsatz.»
Die Jungfraubahnen sehen ebenfalls vom Zertifikat ab. «Für die Bergbahnen gelten die gleichen Regeln wie für den ÖV, unter anderem die Maskenpflicht», sagt Sprecherin Kathrin Naegeli. Das habe sich seit Beginn der Pandemie bewährt. «Deshalb sehen wir keinen Grund, davon abzuweichen.» Im Zusammenhang mit der Wintersaison seien aktuell zu diesem Thema Gespräche im Gang.
Auch die Matterhorn Gotthard Bahn mit der bei Touristen beliebten Gornergrat Bahn teilt mit, für sie gelte das von den SBB erarbeitete Schutzkonzept für den ÖV. Es sieht eine Maskenpflicht vor, aber keinen Einsatz des Covid-Zertifikats.
Die ÖV-Branche will vom Zertifikat nichts wissen: «Gegen eine Zertifikatspflicht würden wir uns mit aller Kraft wehren», sagt Ueli Stückelberger, der Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr (VöV), in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen vom Montag. Der ÖV sei für alle da. Dass die Zertifikatspflicht in Ländern wie Italien oder Frankreich in Fernverkehrszügen längst problemlos umgesetzt wird, lässt er nicht gelten. Der Schweizer ÖV könne nicht so unterteilt werden. Er sei ein System. «Deshalb kann es keine Zertifikatspflicht geben», sagt Stückelberger.
«Es gibt keine Studie, die beweisen würde, dass es im ÖV zu Ansteckungen käme», sagt der VöV-Chef. Vertreter der Branche haben diese Behauptung in den letzten Monaten immer wieder wiederholt - obwohl sie längst widerlegt wurde. Alleine im Kanton Zürich wurden seit Anfang Jahr 187 bestätigte Ansteckungen im ÖV gezählt. Bei weiteren 611 Infektionen wird der ÖV als Ansteckungsort vermutet - und im Kanton Zürich wohnt nur ein knappes Fünftel der Schweizer Bevölkerung.
Das zeigen die öffentlich zugänglichen Daten des Contact Tracing des Kantons, über die Ende Juli mit «20 Minuten» auch die auflagenstärkste Schweizer Zeitung berichtet hatte. Sie dürften damit auch dem VöV bekannt sein, zumal sie auch den beiden wichtigsten Mitgliedern SBB und Postauto vorgelegt wurden. Der Kanton Zürich ist zudem nicht der einzige, der ähnliche Zahlen erhebt: Auch der Kanton Basel-Stadt weist den Ansteckungskontext aus. In den letzten vier Wochen ging demnach jede zehnte Ansteckung mit dem Coronavirus im Stadtkanton auf Reisen zurück.
Weshalb hält der VöV trotzdem an der Aussage fest, es komme in Bahn, Bus und Tram nicht zu Ansteckungen? Auf Anfrage rudert der Verband zurück. «Selbstverständlich kann es auch im ÖV Ansteckungen geben, wie in allen anderen Lebensbereichen», sagt Sprecher Andreas Keller. «Der ÖV ist jedoch kein Hotspot für Ansteckungen. Die im Interview verkürzte Aussage hat dies vielleicht nicht ganz so präzise zum Ausdruck gebracht.» Die Zahlen der Kantone bezweifle der Verband keineswegs.
Dass der Glacier Express nur noch mit Zertifikat zugänglich ist, sieht der VöV nicht als Problem. «Er ist stark auf den internationalen Tourismusmarkt ausgerichtet und damit ganz anders positioniert als der öffentliche Regional- oder Ortsverkehr», sagt Keller. Die Verantwortlichen seien zum Schluss gekommen, dass für ihr touristisches Produkt eine Zertifikatspflicht sinnvoll sein könne, um die verlorenen Gästesegmente zurückzugewinnen. «Dagegen haben wir überhaupt nichts einzuwenden.» (aargauerzeitung.ch)
Felix Meyer
salamandre
Entweder das Ding wird durchgezogen oder nicht. Diese Halbpatzikeiten nützen genau gar niemandem.
TanookiStormtrooper