Paavo Järvi, am 16. Mai dirigieren Sie in Frankfurt, am 18. Mai in München: In dem Fall sind Sie am 17. Mai in Basel beim ESC-Finale zu Gast?
Ich werde wohl eher in einem Hotelzimmer sitzen und dort das ESC-Finale ansehen – und wahrscheinlich auch kommentieren, schliesslich (er beginnt zu lächeln), schliesslich hat jedes Lied eine tiefe psychologische Bedeutung.
Sie verfolgen den ESC jedes Jahr. Woher rührt diese Begeisterung für den Wettbewerb, ist es typisch baltisch oder gar estnisch?
Der ESC war ein grosser Event in meiner Jugend in Estland. Seit damals verfolge ich das Finale immer mit grosser Lust. Als der Este Tanel Padar 2001 gewann, nahm der Kult in Estland natürlich zu. Anneli Peebo war im folgenden Jahr die Präsentatorin. Ich arbeite regelmässig mit ihr zusammen, da sie eine sehr gute Sopranistin ist.
Sie kommentierten auf X bisweilen jedes Lied live: bissig, böse, witzig, ironisch. Das scheint mehr als ein intellektueller Spass zu sein!
Der ESC ist für mich nicht der Platz, um intellektuelle Debatten zu führen. Es sind rein persönliche Kommentare meinerseits. Vor einigen Jahren, als ich in London einen freien Abend hatte, habe ich angefangen, die Lieder zu kommentieren – jedes einzelne. Ich erhalte immer so viele positive Reaktionen: Alle wissen aber auch, dass meine Kommentare ironisch sind. Und selbst wenn ein Kommentar kritisch sein sollte, es ist immer im Geiste von Spass und Freude.
«Madonna meet Conchita Wurst vibe» schrieben Sie 2024 zu den Spaniern, den irischen Beitrag kommentieren Sie mit «Bambi is seducing satan again! I like it! MEMORABLE THEATRE NOT LIKE EVERYONE ELSE!! ps. the song sucks» («Bambi verführt wieder Satan! Ich mag es! DENKWÜRDIGES THEATER, NICHT WIE ALLE ANDEREN!! PS: Der Song ist Scheisse»). Hatten Sie nie Probleme wegen Ihrer Kommentare?
Nie – jeder versteht den Witz, den Geist der Veranstaltung. Es sind keine politischen Kommentare. Nebenbei: Ich würde auch negative Kommentare akzeptieren und aushalten.
Soll ich meine nächste Tonhalle-Orchester-Kritik auch in diesem Stil schreiben?
Wieso nicht, das wäre doch spannend zu lesen (lacht). Sie dürften pro Stück nur 500 Worte benutzen und müssten durchgängig die gleiche Sprache anwenden. Die Emojis bitte nicht vergessen! (Lacht.)
Zu Nemos Beitrag schrieben Sie letztes Jahr spontan: «Very Cool… talented performer! Nice pink skirt! BUT: If you want to hear really good music from Switzerland then may I recommend @tonhalle 😊» («Sehr cool ... Talentierter Performer! Schöner rosa Rock! ABER: Wenn ihr wirklich gute Musik aus der Schweiz hören wollt, dann kann ich euch @tonhalle empfehlen»). Was sagen Sie zu Nemo mit etwas Abstand?
Ich hatte das Lied in der Sendung das erste Mal gehört. Es erschien mir als sehr seriös. Ich schätze jede Musik, die nicht durch einen Algorithmusprozess hergestellt wird.
National läuft es für Nemo, international nicht. Warum nicht?
Popmusik ist eine sehr heikle Angelegenheit. Für eine langjährige internationale Karriere muss man sehr talentiert sein und ein gutes Management haben. Es kommen viele Aspekte bei der Lancierung einer Karriere zusammen und nicht alle sind steuerbar. Es ist schwierig und eine grosse Herausforderung, einen erfolgreichen Song nach dem anderen zu produzieren. Das schreibe ich ja in meinen Kommentaren auch. Wenige Gewinner des ESC haben eine Weltkarriere gemacht.
Sie hätten Nemo helfen sollen. Das Sinfonieorchester Biel/Solothurn trat mit ihm auf, feierte einen Triumph. Warum durfte er nicht mit dem Tonhalle-Orchester und Ihnen auftreten?
Wir sind immer offen, es muss nur das richtige Projekt sein. Wir könnten etwas herausfinden, wie er an einer Bruckner-Sinfonie teilnehmen könnte. Er bräuchte dafür auf jeden Fall einen längeren dunklen Rock (lacht).
Hätten Sie ihn engagiert, wäre der Saal drei Mal voll gewesen, ihr Finanzchef glücklich. Müssen Sie und Ihre Intendantin Ilona Schmiel in Zukunft nicht solche Kombinationen wagen, die Grenzen sprengen?
Wir gehen in unserem Bereich immer an die Grenzen. Ich habe schon mit vielen Pop-Künstlern zusammengearbeitet. Im Prinzip ist die Tür offen, es muss nur das passende Projekt sein.
Nemo hat sicher noch freie Termine in der Saison 26/27. Vielleicht wäre er der richtige Solist für das Open Air auf dem Münsterplatz, das dieses Jahr Mitte Juni stattfindet? Ihre Marketingchefin Michaela Braun wäre begeistert.
Unsere Mission ist es, junge Menschen zur klassischen Musik zu bringen, das treibt uns an – auch unsere Marketingleitung. Wir kooperieren mit vielen Institutionen in der Stadt, die nichts mit Musik zu tun haben, etwa mit dem Zurich Film Festival, aber auch verschiedene Galerien oder Museen.
Zurück nach Basel zum ESC 2025: Wie finden Sie das Lied Ihrer Landsleute, der Esten?
Es sind passionierte Kaffeeliebhaber – ich unterstütze ihren Ansatz vollkommen. Es ist in perfekter estnischer Sprache geschrieben (lacht laut über die Ironie).
Pardon, aber mit diesem Spass-Song verärgern Sie ganz Italien und man wird kaum Punkte holen …
Die sind schon genervt – das ist ja ein bisschen der Sinn des Wettbewerbs: Spass haben mit einem Augenzwinkern. Es ist pure Unterhaltung.
Und was sagen Sie zum Schweizer Beitrag?
Ich möchte überrascht werden. Ausser dem Lied aus Estland höre ich mir vorher nichts an. Dem estnischen konnte ich nicht entkommen, allein schon aufgrund der Diskussion, die es ausgelöst hat. Notabene in Italien.
Wer gewinnt 2025?
Estland natürlich (lacht).
Klar! Nach dem ESC dirigieren Sie ab 4. Juni drei Mal ein reines Mozartprogramm in der Tonhalle, seine drei letzten Sinfonien: Warum ein Programm von gestern anstatt eines von morgen … mit Nemo, Zoë Më oder sonst wem?
Wir spielen auch moderne Musik. Alles, was wir meistens spielen, ist 200 Jahre alt. Es hat Qualität, ansonsten würde man es heute nicht mehr spielen. Wenn Nemo den Test der Zeit besteht, wird er auch in 200 Jahren noch gespielt werden.