Herr Müller, Sie sind doch ein Mann der klaren Worte. Zu Europa aber kam vom Freisinn bisher nur Ungefähres und Widersprüchliches. Haben Sie vor den Wahlen Angst vor einem Positionsbezug?
Philipp Müller: Wo schauen Sie nur hin? Alleine seit der Märzsession haben wir nicht weniger als neun Mal öffentlich Stellung bezogen. Von der Medienmitteilung zur Sicherung des bilateralen Wegs über die Lancierung der Website www.pro-bilaterale.ch bis hin zur Verabschiedung von Resolutionen durch unsere Delegierten. Es ist mir ein Rätsel, warum man uns ständig unterstellt, dass wir nichts sagen wollen.
Christian Levrat wirft Ihnen vor, Wischiwaschi-Positionen zu beziehen.
Das ist absurd. Ich empfehle den Genossen, einmal nachzulesen, was wir konkret vorschlagen. Ausgerechnet von Christian Levrat muss ich mir das nicht vorwerfen lassen. Er weicht diesem Thema aus, wo immer er kann. Dabei hat die SP den EU-Beitritt im Parteiprogramm. Nur darüber reden, wollen sie nicht. Das ist peinlich.
Werden wir konkret: Die FDP fordert die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und gleichzeitig die Rettung der Bilateralen. Mit Verlaub: Das ist ein Witz.
Der Verfassungsartikel zur Zuwanderung fordert drei Dinge: Inländervorrang, Kontingente, Höchstzahlen. Diese drei Begriffe sind in keiner Art und Weise kompatibel mit den Bilateralen. Das habe ich schon immer gesagt. Die Gespräche mit Brüssel zeigen es: Die EU bleibt hart. Grundsätze wie die Personenfreizügigkeit sind unverhandelbar.
Was heisst das jetzt?
Wenn wir die Initiative buchstabengetreu umsetzen, ist das Freizügigkeitsabkommen erledigt. Es wäre nur eine Zeitfrage, bis es Gerichtsfälle gibt. Dann wären die Bilateralen I, die mit der Personenfreizügigkeit verknüpft sind, Geschichte. Gleichzeitig hätten wir auch ein Problem mit den Bilateralen II. Das Schengen-Dossier ist politisch mit dem Freizügigkeitsabkommen verbunden. Würde die Schweiz eine Schengen-Aussengrenze käme es sofort zum Kollaps des Grenzverkehrs.
Ich habe immer noch nicht verstanden, wie Sie nun die Initiative umsetzen wollen.
Lesen Sie unsere Vernehmlassung dazu. Die EU will nicht über das Grundprinzip der Freizügigkeit reden. Nur über Modalitäten. Irgendwann müssen wir Politiker Klartext reden. Daher schlagen wir zwei Varianten vor. Eine buchstabengetreue Umsetzung und als Alternative einen Massnahmenkatalog, der die Bilateralen nicht gefährdet. Die FDP will die Bilateralen auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Das Volk soll darüber beschliessen können.
Ich höre bereits Toni Brunner ausrufen, wie die FDP den Volkswillen nicht ernst nimmt.
Die SVP hat vor der Abstimmung immer behauptet, man könne das Freizügigkeitsabkommen nachverhandeln und die Zuwanderung wieder mit Kontingenten steuern. Doch das funktioniert nicht, wie wir nun sehen.
Sie malen schwarz. Die EU wird doch nicht die Bilateralen kündigen, nur weil die Schweiz die Zuwanderung begrenzt.
Ein Denkfehler! Sie muss die Verträge gar nicht kündigen, sie fallen wegen der Guillotine-Klausel automatisch dahin.
Ist eine Schutzklausel eine Option?
Wir würden ein solches Modell unterstützen. Die EU wird aber kaum eine fixe Zahl akzeptieren.
Wir halten somit fest: Die FDP will die Initiative nicht umsetzen.
Falsch! Das Volk muss Ende 2016 ohnehin in einer Referendumsabstimmung über die Ausführungsgesetzgebung abstimmen. Dann soll zusätzlich eine Einwanderungsbeschränkung als Alternative vorgelegt werden, welche die Bilateralen nicht gefährdet. Wir können alles beschliessen. Aber wir müssen auch die Konsequenzen tragen.
Dann sind Sie für die Rasa-Initiative, die den Entscheid vom 9. Februar rückgängig machen will?
Nein. Diese Initiative will einfach den Volksentscheid vom Februar 2014 aufheben und bietet keine andere Lösung, um die Einwanderung zu beschränken. Wir können nicht so tun, als ob es kein Problem mit der Zuwanderung gäbe. Schon 2008 hat die FDP gefordert, die Einwanderung aus Nicht-EU/EFTA-Staaten einzuschränken. 2009 haben wir eine striktere Anwendung des Freizügigkeitsabkommens verlangt. Passiert ist seither nichts. Bundesrätin Sommaruga setzt nicht um, was möglich wäre.
Klingt gut. Doch die Zuwanderung aus Drittstaaten lässt sich nicht so einfach senken.
Die qualifizierten Arbeitskräfte aus diesen Drittstaaten sind auf 2500 bis 3500 kontingentiert. Trotzdem haben wir von dort alljährlich eine Einwanderung zwischen 40'000 und 45'000 Personen. Es gibt also Spielraum, ohne dass dies die Bilateralen tangieren würde. Die Gesetze sind da. Man müsste sie nur rasch und konsequent anwenden.
Die zweite Grossbaustelle im Verhältnis zu Europa sind die institutionellen Verhandlungen. Ohne Rechtsübernahme und einem Gericht, das Streitfälle entscheidet, gibt es für die Schweiz keine neuen Marktzutrittsabkommen mehr. Was soll der Bundesrat tun?
Schauen wir zuerst, was er herausholt. Sektorielle Abkommen mit Marktzugangscharakter bekommen wir tatsächlich nur, wenn es eine Einigung gibt.
Der Europäische Gerichtshof EuGH soll abschliessend entscheiden, wenn sich Bern und Brüssel nicht einig sind. Das kann die Schweiz nicht akzeptieren.
Das würde auch keine Mehrheit finden. Wir haben rote Linien definiert. Keine automatische Rechtsübernahme, keine Kündigung der Bilateralen, sollte die Schweiz ein Urteil des EuGH nicht akzeptieren. Und das Volk muss immer das letzte Wort haben, ob es EU-Recht übernehmen will. Die entscheidende Frage lautet: Ist der EuGH bereit, Gutachten zu verfassen, wie das Recht ausgelegt werden soll ohne die Streitfrage abschliessend zu beurteilen? Über politisch-diplomatische Differenzen muss weiterhin wie bisher im Gemischten Ausschuss, dann im Parlament und zuletzt vom Volk entschieden werden können. Der EuGH darf keine abschliessenden Entscheide für die Schweiz oder Privatpersonen fällen.
Der EuGH als simpler Gutachter. Das wird die EU nicht akzeptieren.
Das kann man bis zum Abschluss der Verhandlungen unmöglich wissen. Die FDP will den bilateralen Weg sichern und wenn möglich ausbauen. Aber nicht in Umgehung des demokratischen Prozesses. Wichtig ist, dass die Verhandlungen nun rasch abgeschlossen und dem Volk zum Entscheid vorgelegt werden. Wir brauchen Rechtssicherheit. Wenn die Schweiz den EuGH nur als Gutachter akzeptieren muss und wir uns weiterhin frei entscheiden können, einer Auslegung zu folgen oder auch nicht, dann freue ich mich auf diesen Europa-Showdown.
FDP-Bundesrat Didier Burkhalter und Staatssekretär Yves Rossier haben sich viel zu früh auf den EuGH als Gerichtsinstanz versteift. Es wäre wohl klüger, den Efta-Gerichtshof beizuziehen. Da hätte die Schweiz die Möglichkeit, selber einen Richter zu stellen.
Einen von vielen. Das bringt doch nichts. Hinzu kommt: Der Efta-Gerichtshof kann verbindlich nur für die Efta-Staaten urteilen, nicht für die EU. So wäre die EU-Kommission durch die Hintertür eine Art Überwachungsbehörde für alle bilateralen Verträge. Das wollen wir nicht.
Beim EuHG hat es ausschliesslich fremde Richter.
Ja, aber fremde Richter, die für uns nicht abschliessend entscheiden können. Das ist der entscheidende Punkt.