Dass auf Schweizer Strassen heute Rechtsverkehr herrscht, verdanken wir Napoleon Bonaparte. Ebenso das CH-Schild am Auto. Oder das gesamte Zivilrecht. Kantone wie der Aargau oder die Waadt, nach Expertenmeinung sogar die ganze Schweiz gäbe es nicht ohne den korsischen Feldherrn, der 1798 die Helvetische Republik und 1803 die Mediationsakte schuf. Historiker Thomas Maissen nennt ihn schlicht den «Erfinder der modernen Schweiz».
Bloss hatte der illusterste aller Franzosen auch seine Schattenseiten. An der Beresina verheizte er 1812 mehr als tausend Schweizer Soldaten, um die letzten Reste seiner Grande Armée über den weissrussischen Fluss zu retten. «Ogre», Menschenfresser, nennen ihn einige in Frankreich, wo im Verlauf der Napoleonischen Kriege mehr als eine Million Soldaten das Leben liessen.
Eher nostalgische Landsleute sehen in ihm dagegen den Schöpfer der «Grande Nation». Die Debatte wogt seit seinem Tod am 5. Mai 1821, und sie schwächt sich kaum ab. Im französischen Volk bleibt Napoleon I. so populär wie anno 1815, als er aus seiner ersten Verbannung auf der Insel Elba zurückkehrte und im Triumph nach Paris zog, bevor er sein sprichwörtliches Waterloo erlebte. Die Illustrierte «Paris-Match» formuliert die gemischten Gefühle der Franzosen in Zeiten der Covid-19-Krise:
Jetzt, zu Napoleons 200. Todestag, rückt ein brandaktueller Aspekt in den Vordergrund: Die Wiedereinführung der Sklaverei in den französischen Kolonien durch Bonaparte, wie er damals noch hiess. Louis-Georges Tin, Ehrenpräsident des Dachverbandes schwarzer Organisationen in Frankreich (CRAN), erklärte unlängst, im Lebenswerk des nachmaligen Kaisers klaffe «nicht nur ein Makel oder ein Irrtum, sondern ein Verbrechen».
Die aus Haiti stammende Historikerin Marlene L. Daut schreibt in der «New York Times», Napoleon habe keinerlei Gedenkfeier verdient. Mit Bezug auf die US-Bewegung «Black Lives Matter» führt sie aus, für Napoleon hätten «schwarze Leben weniger gezählt» als seine Eroberungen und zivilen Errungenschaften.
War Napoleon ein Kolonialist, Rassist, ja ein Sklaventreiber? Auf jeden Fall ein Kind seiner Zeit. «Ganz einfach, ich bin für die Weissen, weil ich weiss bin», sagte er, um zu höhnen, die Afrikaner seien so unzivilisiert, dass sie nicht einmal wüssten, «was Frankreich ist».
Die Bonapartisten geben zu bedenken, ihr Idol habe in seinen Armeen auch Dunkelhäutige bis in den Generalsrang befördert, etwa den Vater des Schriftstellers Alexandre Dumas. Doch das wiegt wenig im Vergleich zur Wiedereinführung der Sklaverei im Jahr 1802. Die Französische Revolution hatte sie erst acht Jahre zuvor abgeschafft und damit Hunderttausenden von Geknechteten auf der ganzen Welt Hoffnung, wenn nicht die Freiheit gegeben. Bonaparte verschärfte aber sogar den furchtbaren «Code Noir» (Schwarzes Gesetz), der die importierten Sklaven Möbelstücken gleichstellte.
Napoleon bestrafte sich damit selbst. Er unterschätzte die Wirkung seiner Anordnung völlig. In Haiti und anderen französischen Besitzungen der Antillen waren 1794 zahllose afrikanische Sklaven freigekommen. Es war die schönste, sichtbarste und effektivste Umsetzung des Gleichheitsgebotes der Französischen Revolution. Zu deren Folgen kommen wir später.
Dass Napoleon die Ketten in den Kolonien wieder hervorholen liess, hatte handfeste wirtschaftliche und geostrategische Gründe. Saint-Domingue – heute Haiti – galt als Juwel des französischen Kolonialreichs; es produzierte fast die Hälfte der Weltproduktion an Baumwolle, Kaffee und Zucker.
Genauer gesagt die 450 000 Sklaven von Saint-Domingue. Diese Inselhälfte in den Antillen war der Hauptsklavenmarkt Amerikas, genährt durch unmenschliche Bedingungen – wegen Todesfällen mussten jedes Jahr etwa 36000 Afrikaner herbeigeschifft werden. Allem voran wegen des rentablen Zuckerrohrs verfügten die Pflanzerdynastien – denen auch Bonapartes Gattin Joséphine de Beauharnais entstammte – in Paris über eine mächtige Lobby.
Der nachmalige Kaiser hatte auch ein persönliches Motiv, die Sklaverei wieder zuzulassen. Haiti bildete den Mittelpunkt seiner Amerika-Pläne, die er nach dem Scheitern seines Ägypten-Feldzugs wälzte.
So wollte er den gesamten Golf von Mexiko in einen «lac français», einen französischen See, verwandeln. Dazu gehörten das prosperierende Haiti, weitere Karibikinseln wie Guadeloupe und Martinique, aber auch die französische Gründung La Nouvelle-Orléans, heute New Orleans. Die Stadt galt den Franzosen als Tor zum endlosen Mississippi-Einzugsgebiet im Norden.
Aber eben: Vom revolutionären Freiheitsatem erfasst, liessen sich die Sklaven von Saint-Domingue nicht länger unterjochen. Trotz furchtbarer Strafdrohungen organisierten sie den Aufstand. Bonaparte schickte dagegen über 20 000 Mann auf die Karibikinsel. Sie massakrierten die Rebellen, hetzten Bluthunde auf sie, entwickelten in den Schiffsbäuchen sogar eigentliche Gaskammern, in denen Gefangene mit Schwefeldioxid umgebracht wurden.
Mit einem Verrat gelang es Bonapartes Offizieren, den schwarzen General François-Dominique Toussaint Louverture festzunehmen. Der Freiheitsheld wurde nach Frankreich abtransportiert und starb ein Jahr später in einem Verliess im Jura. In Haiti rieb das Gelbfieber derweil die französischen Truppen auf. In der Schlacht von Vertières im Norden der Insel gab ihnen eine schlecht ausgerüstete Sklavenarmee den Rest. Die letzten Franzosen segelten nach Hause.
In den Chroniken der Napoleonischen Kriege findet diese Schlacht jeweils kaum Erwähnung. Dabei hatte sie gewaltige, ja globale Folgen. Nach dem ersten erfolgreichen Sklavenaufstand der Neuzeit wurde Haiti 1804 unabhängig, und von Brasilien bis in die USA begehrten Sklaven auf.
Napoleon wiederum brach sein Nordamerika-Abenteuer ab: Er verkaufte La Nouvelle-Orléans und ganz «Louisiane» – das einem Gebiet von 14 US-Staaten bis an die kanadische Grenze entspricht – für den lächerlichen Betrag von 15 Millionen Dollar an die jungen USA.
Mit dem Geld im heutigen Gegenwert von 250 Millionen Dollar wollte der rastlose Franzose seine nächsten Feldzüge in Europa finanzieren. Aus der eurozentrierten Sicht jener Zeit war das vielleicht nachvollziehbar. Doch man stelle sich vor, Napoleon hätte sich in Kontinentaleuropa mit dem Erreichten zufriedengegeben und dafür das riesige Territorium westlich des Mississippi gesichert und entwickelt. Einige Cowboys würden heute Französisch sprechen ...
Der Franzose hatte seinen amerikanischen Traum wenig durchdacht. Indem er die Sklaverei 1802 wieder einführte und die Geknechteten in die Revolte trieb, verlor er am Ende nicht nur eine strategische Kolonie, sondern auch das zwei Millionen Quadratkilometer grosse «Louisiane». Nicht gerade ein Ruhmesblatt. Von einem Sklavenheer besiegt, nachdem er Ägypten und dann Nordamerika verloren hatte, liess aber Bonaparte in Paris gar nicht erst Kritik aufkommen: 1804, ein Jahr nach dem «Louisiana Purchase», dem Verkauf der nordamerikanischen Besitzungen, krönte sich der kleine Korse in Paris selber zum Kaiser.
In den folgenden Jahren verlor er auch seine europäischen Eroberungen; 1821 starb er auf Sankt Helena. Zu seinem Vermächtnis gehört, dass die Sklaverei in Frankreich erst ein Vierteljahrhundert später definitiv abgeschafft wurde.
Hört endlich auf, heutige moralische Grundsätze an historische Persönlichkeiten zu binden!
Anstelle dass man Statuen einreisst (egal, ob es sich um Südstaatengenerale oder um schweizerische Kaufmänner, die mit Sklaverei ihr Geld verdient haben), stellt lieber Infotafeln auf, auf denen auch (aber nicht nur) die "negativen" Seiten dargestellt werden.
Akzeptieren und als Geschichte werten!
Die Gegenwart ist schon genug kompliziert und die Zukunft wird nicht leichter.