Die Schweiz muss sich von einem fiesen Schlag erholen. Die Löhne stiegen drei volle Jahre lang langsamer als die Preise, die Kaufkraft sank deshalb 2021, 2022 und 2023. Einen solchen Rückgang der Reallöhne hat es im Schweizerischen Lohnindex noch nie gegeben, und die Statistik des Bundesamts für Statistik reicht immerhin zurück bis ins Jahr 1942. Es ist also ein Negativrekord für die Geschichtsbücher.
Nun steigen die Löhne zwar wieder schneller als die Preise. In den Jahren 2024 und 2025 werden die Reallöhne deshalb wachsen, so die Prognose der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF). Die Kaufkraft nimmt also endlich wieder zu, die Menschen können sich mit ihrem Lohn mehr Waren und Dienstleistungen kaufen.
Aber auch mit den erwarteten Lohnerhöhungen werden sich die Menschen nächstes Jahr noch immer weniger kaufen können als sechs Jahre zuvor. Nicht viel weniger zwar, aber normalerweise nimmt die Kaufkraft hierzulande jedes Jahr zu.
Erst 2026 werden ihre Reallöhne wieder zurück sein auf dem Niveau von 2019. Die Schweiz wird dann sieben lange Jahre gebraucht haben, um sich endlich von Corona zu erholen und wenigstens die Kaufkraft von 2019 wiederherzustellen. Sie wird biblische sieben magere Lohn-Jahre durchlitten haben.
Inmitten dieses Trauerspiels kam es 2021 zu einem weiteren Tiefpunkt: Der Lohnindex zeigt für dieses Jahr an, dass sogar die Nominallöhne gesunken sind – zum ersten Mal in der Geschichte dieser Statistik. Ein solcher Rückgang lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass viele Arbeitgeber ihren Angestellten tiefere Löhne in die Arbeitsverträge geschrieben haben. Ein Tabubruch.
Oder doch nicht. Der Lohnindex zeichnete ein derart trauriges Bild, viel trauriger als andere Statistiken, dass einige Arbeitsmarktkenner skeptisch wurden. Heute vermuten sie, dass der Index die Lohnentwicklung vor allem im Jahr 2021 zu schlecht darstellt. Die Löhne sind damals wohl stärker gestiegen, als es der Lohnindex widerspiegelt. Und der Tabubruch von 2021 war möglicherweise eine statistische Fiktion; im echten Leben hat es ihn wohl nie gegeben.
Es dürfte eine von zig überraschenden Corona-Folgen gewesen sein. Der Lohnindex wird erhoben aus Angaben in Unfallmeldeformularen. Das war problemlos in normalen Zeiten. Doch wie KOF-Ökonom Michael Siegenthaler sagt, verunfallten während Corona andere Menschen als sonst, etwa jüngere Menschen mit tendenziell tieferen Einkommen. Siegenthaler: «Die Pandemie dürfte die Zusammensetzung der Verunfallten verändert haben, was den Lohnindex verzerrt haben könnte.»
Wenn die Lohnmisere nicht so gross ist, wie es im Lohnindex den Anschein macht – wie gross war sie dann? Gab es überhaupt eine Lohnmisere?
Es gibt glücklicherweise nicht nur den Schweizerischen Lohnindex. Die KOF berechnet die Lohnentwicklung auch aus Zahlen der Altersversicherung AHV. Diese Statistik ist frei von Corona-Verzerrungen geblieben. Sie zeigt in der Regel ein etwas schöneres Bild als der Lohnindex, weil sie auch Lohnerhöhungen nach Jobwechseln in besser zahlende Branchen erfasst.
Dieser AHV-Index zeigt ein etwas versöhnlicheres Bild. Die sieben mageren Jahre hat es gemäss diesen Zahlen wohl nie gegeben. In Wahrheit sind die Reallöhne nie unter das Niveau von 2019 gefallen. Aber auch der AHV-Index zeigt einen historischen Negativrekord.
Es gab demnach zwei Jahre mit sinkenden Reallöhnen: In den Jahren 2022 und 2023 stiegen die Preise schneller als die Löhne. Auch dieser Rückgang stellte einen Verlust an Kaufkraft dar, wie ihn die Schweiz seit den 1940er-Jahren nicht erlebt hat.
Und dieser Rückschlag wird gemäss den KOF-Prognosen erst 2025 wieder aufgeholt sein. Es waren also nicht sieben biblische magere Jahre, sondern deren vier zwischen 2021 und 2025.
Dass es zu einem solchen Negativrekord kommen konnte, erklärt sich KOF-Experte Siegenthaler unter anderem mit der überraschenden Rückkehr der Inflation. Lange Zeit gab es praktisch keine. Dann plötzlich wieder, nach Corona und Russlands Angriff auf die Ukraine. Die Arbeitnehmenden waren geistig nicht darauf vorbereitet.
So verpasste sie es, genügend kräftige Lohnerhöhungen zu fordern, um die Inflation auszugleichen. Stattdessen waren sie froh, als die Arbeitgeber ihnen gut 2 Prozent mehr Lohn zugestanden. Das war schliesslich deutlich mehr als in den letzten zehn Jahren. Siegenthaler: «Ein Lohnwachstum von 3 Prozent zu fordern, wäre zwar nötig gewesen für den Inflationsausgleich. Aber man muss sich wohl erst wieder daran gewöhnen, so viel zu verlangen.»
Auf jeden Fall lässt die Schweiz nun die mageren Jahre hinter sich. Die KOF rechnet mit einem deutlichen Anstieg des Lohnindexes. Demnach steigt die Kaufkraft im Jahr 2024 um 0,3 Prozent und im Jahr 2025 um 0,7 Prozent. Wer die Stelle wechselt, vorzugsweise in eine besser zahlende Branche, kann mehr herausholen. Berücksichtigt man die Lohnerhöhungen nach solchen Wechseln, gibt es 2024 bereits 0,8 Prozent und 2025 dann 1 Prozent mehr Lohn.
Welche Branchen ihre Löhne um wie viel erhöhen dürften, hat die KOF aus den Angaben von 4500 Unternehmen ermittelt. Demnach rechnet das Gastgewerbe mit 2,5 Prozent mit dem stärksten Anstieg. Mit dem zweitstärksten das verarbeitende Gewerbe mit 1,8 Prozent, vor allem dank der finanzstarken Pharma. Dagegen erwartet der Bau nur eine Zunahme von 1,3 Prozent und der Detailhandel von 1,2 Prozent.
Die Lohnentwicklung in der Schweiz war in der Tat historisch schlecht. Zugleich war sie jedoch im weltweiten Vergleich normal. Das zeigt der Lohnreport der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Nicht nur der Schweiz erging es 2022 und 2023 schlecht. In fast allen reichen Ländern der G20, der Gruppe der 20 grössten Industrieländer, sind die Reallöhne gesunken, zum Teil viel stärker als in der Schweiz. Es ist eine globale Krise der Lebenshaltungskosten – die nun ihrem Ende entgegengeht.
Letzte Woche hat Watson darüber berichtet, dass die reichsten nochmals reicher geworden sind. Doch eben vor allem die Reichsten und nicht alle.
Doch immer wieder und auch hier werden die zwei Themen nicht verknüpft, wobei die Zusammenhänge offensichtlich sind. Das ist nicht nur eine Korrelation, sondern eine Kausalität.