Das Bundesgericht in Lausanne hat in einer öffentlichen Beratung entschieden, dass die Abstimmung zur Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» vom Februar 2016 ungültig und annulliert wird. Drei von fünf Richtern erachten die Abstimmungsfreiheit als verletzt. Das ist ein Novum in der Schweizer Geschichte: Erstmals seit Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848 muss eine Volksabstimmung wiederholt werden.
Die CVP hatte im Sommer 2018 in zahlreichen Kantonen Beschwerde eingelegt und eine Wiederholung der Abstimmung gefordert. Denn kurz zuvor war bekannt geworden, dass im Abstimmungsbüchlein eine falsche Zahl zur Initiative aufgeführt worden war. Dort schrieb der Bundesrat, dass nur rund 80'000 Doppelverdienerpaare mehr direkte Bundessteuer zahlen müssen als unverheiratete Paare mit gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Tatsächlich sind jedoch 454'000 Doppelverdienerpaare von der sogenannten Heiratsstrafe betroffen.
Diese wollte die CVP mit ihrer Volksinitiative abschaffen. Und konnte damit um ein Haar eine Mehrheit finden. Mit 49,2 Prozent Ja- zu 50,8 Prozent Nein-Stimmen scheiterte die Initiative knapp. Das Ständemehr hätte die Vorlage geschafft: 18 Kantone hatten der CVP-Initiative zugestimmt.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), welche die im Abstimmungsbüchlein publizierte Zahl geliefert hatte, vergass bei ihrer Schätzung die Doppelverdienerehepaare mit Kindern. Wie dies passieren konnte, versuchte Patrick Teuscher, ESTV-Sprecher, gegenüber dem «Tages-Anzeiger» zu erklären: Bereits seit 2006 sei in der Steuerverwaltung die Schätzung von 80'000 betroffenen Paaren herumgereicht worden. Als man zuletzt diese Zahl überprüft habe, sei man alleine mit den Paaren ohne Kinder auf diesen Wert gekommen. Wegen dieser Übereinstimmung seien die anderen Paare dann wohl vergessen gegangen.
Die schriftliche Urteilsbegründung steht noch aus und auch der Bundesrat hat sich noch nicht dazu geäussert, wann eine allfällige Wiederholung der Abstimmung stattfinden könnte.
CVP-Präsident Gerhard Pfister hat sich erleichtert gezeigt über den Bundesgerichtsentscheid für eine Wiederholung der Abstimmung über die Heiratsstrafe. Es gehe dabei auch «um die Wiederherstellung des Vertrauens in den Bundesrat». Pfister fordert nun vor einer erneuten Abstimmung eine neue Botschaft des Bundesrats und eine Diskussion im Parlament. Eine reine Wiederholung der Abstimmung sei für ihn keine Option, sagte Pfister gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA am Mittwoch. Denn der Bundesrat habe «wesentlich falsche Zahlen als Basis» vorgelegt.
Die Annullierung einer Abstimmung stelle die direkte Demokratie und ihre Institutionen vor eine völlig neue Situation. Bundesrat und Parlament müssten deshalb ihrer grossen Verantwortung gegenüber den Stimmbürgern nachkommen. Die CVP erwartet vom Bundesrat, dass er das Gespräch mit dem Initiativkomitee und der CVP sucht, bevor er über sein weiteres Vorgehen entscheidet.
Der Basler SP-Nationalrat Beat Jans begrüsst die Annullierung der Abstimmung über die CVP-Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Er finde es richtig, wenn die Abstimmung wiederholt würde. Denn auch sie seien davon ausgegangen, dass die Zahlen stimmten und hätten sich daran orientiert. «Es ist schon stossend, dass der Stimmbevölkerung falsche Informationen vorlagen», sagte Jans, der damals im überparteilichen Nein-Komitee die CVP-Initiative bekämpft hatte. Die Frage sei auch, wie viel diese 450'000 betroffenen Ehepaare mehr zahlten und wie gross die Einbussen für den Bund wären.
Damit genau solche Fragen geklärt werden könnten, fände er es auch gut, wenn sich das Parlament noch einmal mit der Vorlage befassen könnte. Dabei spiele auch der Stand der Debatte im Parlament eine Rolle. Diese neuen Informationen müsse die Bevölkerung haben, um entscheiden zu können. Wegen der Definition der Ehe im Initiativtext werde die SP die Vorlage aber sicher erneut ablehnen.
Der Bundesrat schrieb in einer Medienmitteilung, er habe den Entscheid «zur Kenntnis genommen». Er werde die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, diese analysieren und dann die notwendigen Schritte einleiten, heisst es im Communiqué. Auch zu den fehlerhaften Zahlen im Abstimmungsbüchlein äussert sich der Bundesrat – zumindest indirekt: Zukünftig sollen «Korrekturprozesse für allfällige Fehler» festgelegt und «Vorschläge für den Umgang mit Zahlen und Fakten, die sich im Laufe des Beratungsprozesses verändern», erarbeitet werden. (cbe/jwa/sda)