Der Fall Perinçek, der heute vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) neu aufgerollt wird, ist für die Schweiz von einer einmaligen politischen Tragweite und Brisanz. So geht es beim Prozess gegen den Leugner des Völkermords der Türken an den Armeniern um nichts Geringeres als die Frage, wie die Schweiz die Antirassismus-Strafnorm umsetzen kann, ohne das Menschenrecht auf freie Meinungsäusserung zu verletzen. Und damit auch: inwiefern die «fremden Richter» in Strassburg die Schweizer Rechtsprechung prägen. Besonders diese Frage – und das ist die Ironie am jetzigen Fall Perinçek – treibt die SVP seit Jahren um.
Doch der Reihe nach: 2005 bezeichnet der türkische Arbeiterparteichef Doğu Perinçek, Ultranationalist und mutmassliche Führer einer terroristischen Organisation, bei Versammlungen in der Schweiz, den Genozid an den Armeniern mehrmals als «internationale Lüge». Perinçek wird von allen Instanzen wegen Rassendiskriminierung verurteilt, zuletzt 2007 vom Bundesgericht.
Doch damit ist der Fall nicht beendet – im Gegenteil: Im Dezember 2013 kommt der EGMR zum Schluss, dass die Verurteilung von Perinçek die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. In einer demokratischen Gesellschaft müsse man über sensible Fragen debattieren können, auch wenn dies nicht allen passe.
Die Armenier und ihre Diaspora werden durch das Urteil – notabene kurz vor dem 100. Gedenkjahr des Genozids – massiv gekränkt, die Türkei feiert, und die Schweiz beantragt eine weitere Beurteilung des Falls durch die grosse Kammer des EGMR, die heute ansteht. Es wird eine hochkarätig besetzte Verhandlung werden: Perinçek selber soll vor Ort sein und das Eidgenössische Justizdepartement erhält Schützenhilfe von der britisch-libanesischen Staranwältin Amal Clooney, die den Nebenkläger Armenien vertritt. Für alle Parteien steht viel auf dem Spiel. Für die Schweiz insbesondere deswegen, weil die Verhandlung grundlegende Fragen der Schweizer Rechtsprechung aufrollen wird. Und zwar diese:
Seitdem die Rassendiskriminierung-Strafnorm vor 20 Jahren in Kraft getreten ist, gibt es Querelen um den Gesetzesartikel. Die öffentlich zur Schau getragene Skepsis gegenüber der Norm erreichte ihren Höhepunkt 2006, als der damalige Bundesrat Christoph Blocher auf einer Türkei-Reise sagte, die Strafnorm bereite ihm «Bauchschmerzen».
Auch ausserhalb der SVP gibt es kritische Stimmen. So sagte der ehemalige SP-Bundesrichter Martin Schubarth am Dienstag gegenüber watson: «Die Folge der Norm ist, dass wegen jeglicher ketzerischer Bemerkungen Strafanzeige erstattet wird, Strafverfolgungsbehörden viel Zeit verlieren und letztlich mehr Unfriede statt Friede gestiftet wird». Wer sich in der Schweiz rassistisch äussere, werde ohnehin auch mit aussergerichtlichen Mitteln (etwa öffentlichem Druck) belangt. «Das ist Strafe genug», so Schubarth.
Anders sieht das Georg Kreis, langjähriger Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. In einem Interview mit dem «St.Galler Tagblatt» vergangenen September sagte er, bei öffentlichen rassistischen Äusserungen würde der soziale Friede gestört werden. Das – und nicht die einzeln Diskriminierten – sei das primäre Schutzgut unserer Gesellschaft und mache die Strafnorm sinnvoll.
Nun schaltet sich der EGMR in die Debatte um die Antirassismusnorm ein – was weitreichende Folgen haben wird: Im Vorfeld hatte Falco Galli, Mediensprecher des Justizdepartements, gegenüber der Nachrichtenagentur SDA gesagt: «Die erneute Überprüfung des Falls Perinçek wird den Ermessensspielraum präzisieren, den die Schweizer Behörden bei der Anwendung der Norm unter Beachtung der Meinungsfreiheit haben.» Das heisst: Das Urteil der Strassburger Richter wird nichts Geringeres als die schweizerische Rechtsprechung massgeblich prägen – und das führt zur nächsten Frage.
Dass sich die Strassburger Richter in diese Justiz-Debatte einmischen, stösst auf viel Kritik. Auch Schubarth, der die Strafnorm für einen Leerläufer hält, sich aber als «Anhänger geltenden Rechts» bezeichnet, sagt gegenüber watson: «Die Rassendiskriminierungsnorm ist in der Verfassung verankert, deshalb anzuwenden, und von Strassburg zu akzeptieren». Der EGMR solle sich in Zurückhaltung üben und sich nicht in die nationale Rechtsprechung einmischen.
Noch schärfer tönt es seit langem aus dem rechten politischen Lager. Der EGMR würde mit Arroganz und Ignoranz «von weit oben» Auffassungen absondern, welche die demokratische Schweiz binden und in undemokratischer Weise verändern würden, schrieb die «Weltwoche» im letzten Juni. Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen SVP-Exponenten, die unter dem Vorwand, die Souveränität der Schweiz sei gefährdet, die Teilnahme am EGMR infrage stellen und mit der Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» den Austritt aus der Menschenrechtskonvention fordern.
Und genau das ist die Ironie am Fall Perinçek: Ausgerechnet die SVP, die seit Jahren gegen die «fremden Richter» in Strassburg schiesst, jubelte dem EGMR zu, als dieser im Dezember 2013 den Entscheid fiel, die Anwendung der Antirassismusstrafnorm gegen Perinçek sei menschenrechtswidrig.
Der Prozess gegen Perinçek sprengt den Rahmen der Querelen um die Rassendiskriminierung und den Zwist zwischen schweizerischer und europäischer Justiz. Schliesslich geht es auch um die Frage, inwiefern Gerichte überhaupt historisch lange zurückliegende Ereignisse beurteilen können und sollen. Gemäss dem erstinstanzlichen Urteil gegen Perinçek basieren seine Reden auf einer rassistischen Grundlage, die sich nicht mit den Fakten aus der Geschichtswissenschaft vereinbaren lasse – eine Begründung, die bei vielen Historikern auf Unverständnis stiess.
«Der Genozid an den Armeniern wird nie die Beachtung erhalten, die er verdient», sagt Martin Schubarth dazu. Dennoch sei es heikel, historisch lange zurückliegende Ereignisse zu beurteilen. Schubarth: «Es gibt immer mehrere Wahrheiten».