Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerats steht nicht gerade im Ruf, ein Hort revolutionärer Ideen zu sein. Das könnte sich aber bald ändern. Ihre Mitglieder sehen den Rechtsstaat in Gefahr, weil sich in ihren Augen Volksinitiativen häufen, welche die Grundrechte verletzen. Deshalb erarbeiten sie derzeit Grundlagen, um heikle Initiativen gar nicht erst zur Abstimmung gelangen zu lassen.
Nun zeigt sich erstmals, welche konkreten Ideen die Ständeräte prüfen. Sie sind im Mitbericht an die Wirtschaftskommission (WAK) festgehalten, den die SPK für die Beurteilung der Erbschaftssteuerinitiative verfasste. Er liegt der «Schweiz am Sonntag» vor. Die Vorschläge sind umfassend: Wären sie schon heute in Kraft, hätten sie dem Parlament womöglich die Macht gegeben, viele Initiativen der letzten Jahre zu stoppen. Sie betreffen nicht nur die Gültigkeit von Initiativen, sondern auch die Frage nach der Auslegung durch das Parlament.
Erweitern will die SPK die Kriterien, nach denen eine Volksinitiative vom Parlament für ungültig erklärt werden kann. Heute ist das nur möglich, wenn eine Initiative gegen die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder gegen zwingendes Völkerrecht verstösst. Erst viermal erklärte das Parlament bisher auf dieser Grundlage eine Initiative für ungültig.
Dieser Spielraum ist der SPK zu klein. Einschreiten können soll die Bundesversammlung nach ihrem Vorschlag auch dann, wenn eine Initiative gegen weitere Grundsätze verstösst. Explizit nennt sie im Mitbericht das Diskriminierungsverbot, das Prinzip der Verhältnismässigkeit und das Rückwirkungsverbot.
Besonders die beiden ersten Vorschläge bergen Sprengstoff, weil sie sehr weit ausgelegt werden können. Als «unverhältnismässig» werden Volksinitiativen regelmässig bezeichnet. Ist es verhältnismässig, wenn ein 22-jähriger Lehrlingsausbildner, der einvernehmlich Sex mit seiner 17-jährigen Freundin hat, nie mehr Lehrlinge ausbilden darf? Das fordert die Pädophilieinitiative, die im Mai dieses Jahres angenommen wurde. Sie hätte demnach für ungültig erklärt werden müssen.
Auch der Vorwurf, eine Initiative sei diskriminierend, trifft je nach Lesart auf einige Volksinitiativen der vergangenen Jahre zu – allen voran auf die 2009 angenommene Minarettinitiative. Ihre Gegner argumentierten im Abstimmungskampf, dass ein Verbot für Minarette Muslime diskriminiere.
Die Ständeräte stören sich auch daran, dass viele Initiativen zu lang und zu detailliert ausformuliert sind. Deshalb schwebt der SPK gemäss Mitbericht vor, die «Wahrung einer sinnvollen Aufgabenteilung» festzuschreiben. Volksinitiativen sollten sich «auf die Regelung grundlegender Prinzipien beschränken» und den Handlungsspielraum des Parlaments in der Ausgestaltung nicht aufheben können.
Der Vorschlag ist brisant, weil damit viele Volksinitiativen angreifbar werden. Derzeit sammelt eine parteilose Gruppierung Unterschriften für eine Tempolimite 140 auf der Autobahn: Ist das noch ein «grundlegendes Prinzip»? Wie verhält es sich bei der Abzockerinitiative, mit der detaillierte Strafbestimmungen Eingang in die Verfassung fanden?
Erweitern wollen die Ständeräte auch die Interpretation des zwingenden Völkerrechts. Dieses sollte das Prinzip der Verhältnismässigkeit einschliessen. Auf die Praxis angewandt, hiesse dieser Vorschlag, dass alle Volksinitiativen für ungültig erklärt werden könnten, die eine automatische Einschränkung eines Menschenrechts vorsehen. Dazu zählen zum Beispiel die Ausschaffungs- und Durchsetzungsinitiativen der SVP, aber auch die Verjährungsinitiative.
Ansetzen will die SPK nicht nur bei der Frage nach der Gültigkeit von Initiativen, sondern auch bei deren Umsetzung. Demnach könnte das Parlament zu einer «harmonisierenden Auslegung» verpflichtet werden. Das heisst: Die Umsetzung darf nicht nur auf den Wortlaut des Initiativtexts abstellen, sondern soll die Bundesverfassung «umfassend» berücksichtigen.
Auch dieser Vorschlag birgt Konfliktpotenzial. Im Grundsatz gilt schon heute, dass die bestehenden Bestimmungen der Verfassung in Kraft bleiben, wenn nach einer angenommenen Initiative ein neuer Artikel hinzukommt. Wird aber die Balance des geltenden Rechts gegenüber dem neuen zu stark verschoben, ginge das an die Substanz der direkten Demokratie. Denn mit Verweis auf Grundrechte könnte das Parlament theoretisch häufig gegen die Umsetzung einer Initiative argumentieren. Greift etwa das Verbot von Abgangsentschädigungen, wie sie die Abzockerinitiative verlangt, nicht zu stark in die Wirtschaftsfreiheit ein?
Die Reformpläne bedeuten auch, dass die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit neu auf den Tisch kommt. Dass allein das Parlament über die Gültigkeit von Initiativen entscheiden soll, ist wenig realistisch – besonders, wenn die Kriterien erweitert werden sollten. Nach Ansicht der SPK könnte das Bundesgericht die Kompetenz erhalten, bei Fragen nach der Gültigkeit von Initiativen mitzusprechen oder selbst zu entscheiden.
Ihre Vorschläge will die SPK nun in den nächsten Monaten mit Rechtsexperten vertiefen und noch vor Mitte des nächsten Jahres bereinigen. Um die Brisanz wissen ihre Mitglieder: «Wir haben das Feld bewusst weit abgesteckt», sagt Kommissionspräsidentin Verena Diener (GLP/ZH). Der Inhalt von Volksinitiativen habe sich in den vergangenen Jahren stark verändert: «Dass man zum Beispiel Durchsetzungsinitiativen lanciert, ist eine völlig neue Qualität.» Deshalb sei es angebracht, grundsätzliche Überlegungen zum Initiativrecht anzustellen.
Rechtsprofessoren reagieren auf die Vorschläge unterschiedlich. Der Basler Staatsrechtler Markus Schefer ist skeptisch gegenüber neuen Ungültigkeitsregeln: «Es ist eine Stärke unseres Initiativrechts, dass auch Fragen zur Abstimmung gelangen, die in der institutionalisierten Politik überhaupt nicht mehrheitsfähig sind».
Neue Hürden befürworten würde der Völkerrechtler Daniel Thürer. Je vager das Prinzip, desto wichtiger werde allerdings die Frage, wer über die Gültigkeit von Initiativen entscheide. «Sinnvoll wäre eine Kommission aus Parlamentariern, angesehenen Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft, die eine Art Rat der Weisen bilden», sagt Thürer. Diese Kommission sollte die Kompetenz haben, vor der Unterschriftensammlung über die Gültigkeit einer Initiative zu entscheiden. Dieser Entscheid könnte dann vor dem Bundesgericht angefochten werden.
Abgesehen davon sind die vorgeschlagenen Schritte mehrheitlich sinnvoll, da die aktuelle Initiativflut die direkte Demokratie nicht stärkt, sondern aushebelt und ad absurdum führt.
Initiativen sollten nicht dem populistischen Aktionismus dienen und nicht als Wahlvehikel missbraucht werden, aber beides ist aktuell mehrheitlich der Fall.