Rosa Einband, etwas über 200 Seiten, der Titel in Form der Umrisse eines halben Herzens. Anna Rosenwassers zweites Buch präsentiert sich verspielt – wie die 34-Jährige selbst.
Ein halbes Herz, das passt zur queeren Aktivistin, die gerne die Liebe zu ihrer Community zelebriert, aber auch beharrlich anrennt gegen eine ausgrenzende Gesellschaft und das Patriarchat.
Wir treffen Rosenwasser in Zürich. Weiss-rosa Pulli mit Herzen, ein Fingerring mit Herzmotiv, mit Herzchen tätowierte Finger – die Differenz zum «Tenue politique» ist augenfällig und Teil der Botschaft. Rosenwasser ist anders, und die anderen sind die, die sie im Parlament vertritt.
Ihre rund 50'000 Follower und Followerinnen auf Instagram nennt Rosenwasser gerne «Büsis». 2023 haben sie die «Büsis» überraschend ins nationale Parlament gehievt. Rosenwasser überholte 12 andere SP-Kandidaten. Es war der grosse Coup dieser Wahlen und ein Geschichtsmoment für die queere Community in der Schweiz.
Im Bundeshaus organisiert Rosenwasser heute Führungen für ihre Anhängerschaft, oder wie sie es nennt: «Bundes-Büsi-Touren». Klingt albern? So ist es nicht gemeint. Rosenwasser will Menschen ansprechen, die nicht auf einen traditionellen Bundeshaus-Rundgang gehen würden, weil sie sich dort fremd vorkämen.
Gemeinschaft für minorisierte Gruppen zu ermöglichen, das war schon früher eine von Anna Rosenwassers Ambitionen. Etwa wenn sie ihre Community eingeladen hat, sich am Hauptbahnhof Zürich zu treffen und gemeinsam in den Ausgang zu gehen. Für manche Queers war das der «Schubs», den sie brauchten, um sich nicht zu Hause zu verkriechen.
Auch als Nationalrätin ist Rosenwasser aktivistisch geblieben. Und hier kommt wieder ihr Buch ins Spiel: «Herz – Feministische Strategien und queere Hoffnung». Sie richtet sich damit an die Mitte der Gesellschaft wie auch an ihre Community, die sie sonst mehrheitlich auf Instagram erreicht. «Auf Insta kann ich nichts vertiefen, deshalb das Buch», sagt Rosenwasser.
Auch wenn sich alles vermischt, das Nebeneinander als Autorin und als Nationalrätin sei eigentlich kaum zumutbar. «Das Milizsystem ist eine gute Idee, aber es ist mit dem Workload als Parlamentarierin heute nicht mehr realistisch.» Deswegen seien gewisse Bevölkerungsgruppen auch nicht vertreten im Bundeshaus, folgert sie in Übereinstimmung mit ihrer Partei.
Rosenwasser hat einst Journalismus an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und später Politikwissenschaft an der Universität Zürich studiert. Während zehn Jahren arbeitete sie als Journalistin, unter anderem für die «Schaffhauser Nachrichten», da, wo sie aufgewachsen ist.
Zu den Medien hat sie heute ein ambivalentes Verhältnis. Mehrfach kritisiert sie in ihrem Buch, die Medien seien sensationshungrig, würden vor allem Politikerinnen an Details aufhängen und wochenlang vor sich hertreiben.
Erlebt hat das Rosenwasser im Januar, nachdem sie sich im Sessionsrückblick mit ihrer lesbischen Parteikollegin Tamara Funiciello zur Frauen-WM geäussert hatte. Rosenwasser witzelte: «Ich interessiere mich nicht für Fussball, aber für Lesben, die Sport machen.» Funiciello legte nach. Manche fanden, damit würden sie den Frauenfussball nicht ernst nehmen. Beide haben sich später entschuldigt.
«Die Medien drehten vier Wochen lang immer am selben Rad», sagt Rosenwasser über diese Zeit. Das eigentliche Thema, ob und wie man öffentlich über sein Begehren reden darf, hätten sie dabei nicht berührt. «Besonders geärgert hat mich aber, dass mir das Wort Lesbe als Schimpfwort ausgelegt wurde.» Eine boshafte Verdrehung für Rosenwasser, die vier Jahre lang Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz LOS war.
Der mediale Druck, die Arbeitslast – der Januar ging nicht spurlos an Rosenwasser vorbei. Beinahe hätte sie ihr Amt als Nationalrätin niedergelegt, sagt sie. Stattdessen entschied sie sich, das Pensum ihres parlamentarischen Mitarbeitenden – wie ihn auch andere Nationalräte beschäftigen – von 30 auf 70 Prozent aufzustocken, um sich etwas Luft zu verschaffen.
Eigentlich sei es ihr nie besser gegangen als in der Zeit vor der Wahl ins Parlament, als sie nur 80 Prozent arbeitete. Rosenwasser hat ADHS. Manchmal wird ihr alles zu viel. «Ich weiss, dass ich Pausen machen muss, um wieder aufnahmefähig zu sein», sagt sie. Deshalb lege sie ihr Arbeitshandy heute strikt für zwei Tage die Woche weg und damit auch ihren Instagram-Account.
Sie wisse, dass sie damit einen Teil der politischen Arbeit verpasse, sagt sie. Und auch die Möglichkeit, aufzufallen, bekannt zu bleiben. «Wenn ich nicht erreichbar bin, gehen Anfragen an mir vorbei, das muss ich aushalten», sagt sie. «Mein ADHS würde sonst durch die Decke gehen.»
Das ist für Rosenwasser nicht nur Selbstschutz, sondern auch ein Plädoyer. Frauen werde beigebracht, dass sie perfekt sein müssten, schreibt sie in ihrem Buch. Bei Männern sei Mittelmässigkeit hingegen völlig normal.
Dass Mittelmass ausreicht, hat Rosenwasser unter anderem im Bundeshaus gelernt. Sie schildert dazu, wie ihr ein Ständeratskollege stolz einen Facebook-Post zeigte, der sich als absolut mittelprächtig herausgestellt habe. Sie könne sich keine Frau vorstellen, die ihr in so hohen Tönen davon erzählt hätte.
Und so folgert sie in ihrem Buch: «Diese männlich sozialisierte Unverschämtheit zu identifizieren, auch den männlich sozialisierten Mut zum Prozessorientierten anzuerkennen, kann uns helfen, nicht mehr Perfektion von uns selbst zu erwarten. Sondern Mittelmässigkeit.»
Frauen und Männer in der Politik werden nicht mit derselben Elle gemessen, ist Rosenwasser überzeugt. Beispielhaft zeige das der Fall Sanija Ameti. Die GLP-Politikerin hatte in einem Keller mit einer Luftpistole auf ein Jesus-Bild geschossen und davon ein Bild gepostet. Die Folge: Shitstorm, Jobverlust, Parteiaustritt.
Im Nationalrat hingegen sässen Männer, die wegen Rassendiskriminierung verurteilt und mehrfach wegen häuslicher Gewalt angeklagt wurden, erinnert Rosenwasser. Diese Männer wurden wiedergewählt. Rosenwasser nennt die Politiker in ihrem Buch mit Namen. Wer nicht «in einer Geschichte» landen wolle, solle eben «keinen Scheiss anstellen», so Rosenwasser. Das gelte auch für das Bundeshaus, diesen «safe space für cis-Männer».
Als Anna Rosenwasser nach der Wahl das erste Mal im Bundeshaus stand, sprach sie von den patriotischen Gefühlen, die sie überkommen hätten. Es war ernst gemeint, aber auch nicht. Patriotismus sei ein absurdes Gefühl, sagt Rosenwasser, weil man auf etwas stolz sei, wofür man nichts könne. Nämlich das Glück, in einem Land wie der Schweiz geboren zu sein. Gleichzeitig sei da der Respekt vor der Aufgabe, einen Teil der Schweizer Bevölkerung zu repräsentieren.
In Bern wurde ihr geraten, sich ein dickes Fell zuzulegen. Auch ein wenig Zynismus schade nichts. Rosenwasser widerspricht: «Hart sein, seine Emotionen unterdrücken, das hat noch nie jemandem gutgetan. Es ist erwiesen, dass es einem psychisch besser geht, wenn man einen gesunden Zugang zu seinen Gefühlen hat und diese auch zeigen kann.»
Rosenwasser will ihre weiche Seite behalten. Taktischer Nebeneffekt: «Meine Kolleginnen und Kollegen im Rat nehmen mich nicht als echte Konkurrenz wahr. Noch nicht.»
Konziliant ist Rosenwasser nicht, aber weniger hart – was sie von anderen Vertreterinnen der Polparteien unterscheidet. Sie weiss, dass sie deswegen besser akzeptiert wird von queer-feindlichen Männern. Aber auch ihres Aussehens wegen, das in die weibliche Schönheitsnorm passt. «Wenn ich in die Arena gehe, dann ecke ich nur schon deswegen weniger an.»
Ihre Parteikollegin Tamara Funiciello tritt provokanter auf und wird angefeindet. Auch werde sie «von den Medien zur Hassfigur gemacht. Dabei ist sie genauso weich und durchlässig wie ich». Als Rosenwasser gewählt wurde, habe Funiciello zu ihr gesagt: «Jetzt bin ich nicht mehr alleine.»
Die Medien hätten seither immer wieder die Frage aufgeworfen: Hat es Platz für zwei queere Politikerinnen, Funiciello und Rosenwasser? Rosenwasser findet das absurd: «Es hat immer Platz für viele talentierte Frauen nebeneinander.» Aber Frauen würden immer noch gegeneinander ausgespielt, um sie kleinzuhalten. Ein mächtiger Wirkmechanismus des Patriarchats.
Davor ist auch Rosenwasser nicht gefeit. Sie ertappe sich immer wieder bei erlernter Missgunst, sagt sie. Ihre Strategie dagegen: das Gefühl in Solidarität zu verwandeln. Wie zuletzt, als sie in der Buchhandlung feststellte, dass das Softcover von Nina Kunz' Buch «Ich denk, ich denk zu viel» drei Jahre nach dem Hardcover wieder ein Bestseller war. «Ich schrieb Nina eine Nachricht und sagte ihr, wie toll das Buch sei.»
Am Abend unseres Treffens hat Rosenwasser eine Lesung mit ihrem eigenen Buch. Der Kaufleuten-Saal ist ausverkauft. Ihre rosa glänzende Tasche hat sie im Backstage liegen lassen, darauf ist eine flauschige Katze mit einem Dolch zwischen den Zähnen.
Dieser Quatsch kann noch so oft wiederholt werden, wahrer wird er dadurch nicht.
Warum ist Sie dann stolz Queer zu sein und stellt diesen Stolz Tag für Tag auf Instagram zur Schau? Dafür kann man ja auch nichts, Sie wurde einfach so geboren.