Der Grosseinsatz rund um das Bundeshaus in Bern sorgte am Dienstag für helle Aufregung. Auslöser war ein verdächtigter Mann in Kampfmontur und sein auf dem Bundesplatz abgestelltes Auto. In der Folge musste das Parlamentsgebäude evakuiert werden. Die Evakuierung löste Zweifel darüber aus, ob das Sicherheitsdispositiv funktioniert. In die Kritik gerieten auch die Parlamentsdienste, welche für die Organisation zuständig waren. Im Interview mit CH Media äussert sich nun Andreas Wortmann, der oberste Sicherheitschef der Bundesversammlung, erstmals zur Evakuation und warum nicht alles einwandfrei ablief.
Herr Wortmann, wie haben Sie den Tag der Evakuierung erlebt?
Ich war zufällig im Bundeshaus-Restaurant Galerie des Alpes, als eine Nachricht der Alarmzentrale des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) eintraf. Es hiess, wir müssten das Parlamentsgebäude unverzüglich evakuieren. Wir wussten, ein verdächtigtes Auto steht auf dem Bundesplatz. Mir war klar: Ich muss möglichst rasch die Politikerinnen und Mitarbeiter evakuieren, die sich in den Räumen zur Nordseite hin befinden. Das ist uns innerhalb weniger Minuten gelungen. Danach ist mein Puls wieder etwas ruhiger geworden. In meinen elf Jahren als Sicherheitsbeauftragter habe ich zum ersten Mal eine komplette Evakuation des Bundeshauses erlebt.
Einige Personen gingen aber vergessen.
Ja. In der Hektik ging Ständeratspräsidentin Brigitte Häberli-Koller vergessen, die in ihrem Büro gearbeitet hat. Das ist sicherlich der grösste Fehler, den ich mir vorwerfen muss.
Sie war nicht die einzige. Tobias Vögeli, Co-Präsident der Jungen Grünliberalen Schweiz, wurde zufälligerweise von einem Sicherheitsbeamten entdeckt und daraufhin aufgefordert, das Gebäude sofort zu verlassen. Wie kann es sein, dass er nichts von der Evakuierung mitbekommen hat?
Das ist bedauerlich. Anders als im Bundeshaus Ost und West wurde bei uns im Haus kein akustischer Alarm eingesetzt. Das ist auch ein Grund, warum wir am Dienstag auf Personen getroffen sind, die nicht im Bild waren.
Das ist schwer verständlich. Ein Alarm muss doch tönen.
Am Dienstag wäre das vielleicht angebracht gewesen. Generell verzichteten wir bisher bewusst darauf. Man muss sehen: Bei Bundesratswahlen haben wir knallvolle Tribünen, eine volle Wandelhalle und 246 Ratsmitglieder im Nationalratssaal - alle auf einem Haufen. Wenn ich dort einen akustischen Alarm loslasse, ist die Gefahr gross, dass Panik ausbricht. Für die Zukunft werden wir diese Frage erneut prüfen. Trotzdem ist die Evakuation nicht so schlecht gelaufen.
Das sehen nicht alle so. Die heftigste Kritik übte Ständerat Andrea Caroni. Er sprach von einem «idealen Szenario» für einen Angriff auf Parlamentarier. Was antworten Sie ihm?
Ich sage ihm, es gibt für jede Evakuation eine Gefährdungsanalyse. Wir müssen uns immer fragen: Warum evakuieren wir? In diesem Fall war es ein verdächtiges Fahrzeug auf dem Bundesplatz. Bei einem Anschlag auf der Bundesterrasse wäre ein anderes Szenario zum Zug gekommen. Wir wussten: Sobald die Parlamentarier auf der Südseite des Bundeshauses sind, sind sie geschützt. Unsere Maxime war: Wir müssen unverzüglich die Nordseite evakuieren.
Caroni kritisiert, dass es viel zu lange gedauert habe, bis die Parlamentarier draussen waren («Türe liess uns nur einzeln raus»). Ist im Falle einer Evakuierung das Tempo nicht entscheidend?
Im Kontext der Evakuation vom Dienstag spielte das kaum eine Rolle. Ich wusste, dass die Bedrohungslage im Norden ist. Dass die Parlamentarier beim Südeingang 20 Minuten warten mussten, war nicht mehr relevant. Selbst wenn eine Bombe auf dem Bundesplatz detoniert wäre, wären sie sicher gewesen.
Ein weiterer Vorwurf lautet, dass sich die Gruppe draussen vor dem Gebäude wie eine «unbewachte Schafherde» vorgekommen sei. War die Sicherheit so garantiert?
Die Kantonspolizei Bern, die um das Bundeshaus für die Sicherheit zuständig ist, hat das Gebiet grossräumig abgesperrt. Innerhalb dieser Absperrung war zu keiner Zeit irgendeine Person - vielleicht mit Ausnahme eines Polizisten.
Gehapert hat es aber bei der Information.
Dafür wurden wir zu recht kritisiert. Im Konzept ist vorgesehen, dass wir auf den Sammelplätzen, wo sich die Evakuierten hinbegeben, einen Verantwortlichen haben. Am Dienstag musste ja «unverzüglich evakuiert» werden. Es war also nicht möglich, den Sammelplatzverantwortlichen vorgängig zu organisieren.. Die Gruppe stand dann - wie Herr Caroni sagte - während maximal 20 Minuten wie eine Schafherde rum, ohne genauere Informationen zu haben. Es war eine ungeordnete Evakuation, aber die Menschen waren in Sicherheit. Unser Ziel muss aber sicher sein, besser zu informieren.
Warum gibt es so viel Kritik der Ratsmitglieder?
Da müssen sie die Parlamentarier fragen. Für sie ist es bestimmt unangenehmer als für Mitarbeiter zu hören: «Du musst jetzt aus dem Bundeshaus raus.» Es ist auch sehr persönlich, wie jemand mit so einem Ereignis umgeht. Dass die Emotionen manchmal hochgehen, ist verständlich.
Im Ernstfall reagieren die Leute anders als bei einer Übung.
Das macht sicherlich einen Unterschied. Bei einer Übung bin ich lockerer und weniger gestresst. Am Dienstag wussten alle, es ist ernst.
Was beim Sicherheitsdispositiv auffällt: Es ist komplex und es sind viele Stellen involviert. Für die Zutrittskontrolle ist das Fedpol zuständig, für die Evakuation die Parlamentsdienste. Sobald die Parlamentarier draussen sind, ist es die Kantonspolizei Bern. Erschwert dieser Flickenteppich nicht eine kohärente Strategie im Krisenfall?
Es dünkt mich nicht, dass es ein Flickenteppich ist. Die Verantwortlichkeiten sind klar geregelt und das System funktioniert gut. Die Parlamentsdienste haben den Schutz für die Menschen in diesem Haus sicherzustellen. Wir können die Sicherheit nicht selbst garantieren, also greifen wir auf das Fedpol zurück. In unserer Verantwortung liegt insbesondere die Frage, wie wir evakuieren.
Wäre es nicht einfacher, wenn nur jemand verantwortlich wäre?
Nein, überhaupt nicht. Es würde nicht funktionieren. Zwischen den Gebäuden gibt es Unterschiede. Im Parlamentsgebäude ist es eine Gratwanderung zwischen öffentlichem Haus und Schutz. Den absoluten Schutz hätte ich dann, wenn ich das Haus schliessen und grossräumig absperren würde. So wie das in anderen Ländern der Fall ist. Mit ein paar Hundert Besuchern und Gästen im Haus funktionieren wir nicht wie ein Verwaltungsgebäude sondern eher wie ein öffentliches Haus. Es gilt immer abzuwägen, wie stark wir die Sicherheit gewichten. Manchmal braucht es auch ein Ereignis, wie am Dienstag, um das System auf den Prüfstand zu stellen.
Welche Lehren ziehen Sie sonst aus letztem Dienstag?
Für konkrete Lehren ist es noch zu früh. Ad-hoc Schnellschüsse bringen nach einem solchen Ereignis nichts. Klar ist jedoch: Es lässt sich vieles verbessern. Für mich bleibt aber am wichtigsten, dass wir innerhalb von wenigen Minuten, die Menschen aus den am meisten gefährdeten Sitzungszimmern evakuiert haben. (aargauerzeitung.ch)