Er wirkte leer und abgekämpft nach den Wahlen 2023 – obwohl die Mitte eine der Siegerinnen war. Statt sich von den Strapazen zu erholen, musste Präsident Gerhard Pfister eine weitere Parforceleistung hinlegen: Es fehlten Zehntausende Unterschriften zu den Initiativen für faire Steuern und Renten auch für Ehepaare.
Mit einem Effort brachte die Mitte ihre Prestigeinitiativen über die Ziellinie – und Pfister gönnte sich erstmals eine Auszeit, seit er 2016 zum Präsidenten der damaligen CVP gewählt worden war. «Die letzten vier Jahre waren intensiv», sagt er – und spricht damit indirekt auch die Fusion von CVP und BDP zur Mitte an, die 2020 und 2021 über die Bühne ging.
Er entschied sich für eine Woche Disentis. Und zwar im Kloster. Es bietet unter dem Motto «Ich bin dann mal weg» Kloster auf Zeit an. Pfister kennt das Kloster Disentis von früher her: Er hat dort die Matura absolviert. «Nach dem Wahljahr und dem Endspurt für die erfolgreiche Einreichung der beiden Initiativen», betont er, «musste ich zur Ruhe kommen.»
Parteipräsident zu sein, ist einer der härtesten Jobs, den die Schweiz zu vergeben hat. Wer ihn ausübt, verdient nicht besonders gut – von 2500 Franken (GLP) bis zu 80'000 Franken (Mitte), wie die NZZ schrieb. Dafür ist er ständig auf Achse und muss mit Kritik von allen Seiten umgehen. Immaterieller Lohn ist ein grösserer Bekanntheitsgrad, das Mitgestalten der Schweizer Politik in exponierter Rolle und eine erhöhte Chance, später allenfalls Bundesrat zu werden. Sogar Regierungsmitglieder sagen, das Bundesratsmandat sei weniger belastend als der Präsidentenjob.
Als die Wahlen 2023 mit den Erneuerungswahlen im Bundesrat Geschichte waren, fühlten sich Pfisters Kollegen und Kolleginnen ebenfalls leer. «Auch wir waren ziemlich fertig», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth. Auch wenn die Situation bei der SP dank des Co-Präsidiums «entspannter» sei.
Wermuth nahm sich mit seiner Familie eine zweimonatige Auszeit in Vietnam und auf den Philippinen. Hauptgrund dafür war seine Familie, die gerade in den Wahljahren «viel Angespanntheit und auch Abwesenheit» aushalten musste, wie er sagt. «Doch ich wollte auch präventiv neue Kraft tanken.»
Keine klassische Auszeit gönnte sich FDP-Präsident Thierry Burkart. Doch auch er sagt: «Vor den Wahlen bin ich teilweise an die Belastungsgrenze gegangen.» Er nahm sich nach den Wahlen Zeit, «um innezuhalten und neue Kraft zu tanken». Die FDP gehörte zu den Verliererinnen. Burkart überlegte sich, ob er weitermachen soll. Erst nach der Pause habe er gesagt: «Ja, das will ich. Diese Partei und ihre Werte liegen mir am Herzen. Und hier kann ich als Präsident weiterhin etwas bewegen.»
Der Job des Parteipräsidenten sei vor allem auf psychologischer Ebene anspruchsvoll, sagt Nationalrat Balthasar Glättli, bis am 6. April Grünen-Präsident. «Von der Verantwortung her, die man trägt, ist es ein 300-Prozent-Pensum.» Die mentale Belastung sei sehr hoch, «und die kann man auch in den Ferien nicht ablegen».
Sobald er als Präsident jeweils die News in den Zeitungen las, habe sich alles vor ihm «in To-do-Listen oder strategische Herausforderungen» verwandelt. Als Präsident müsse man immer «in aller Ruhe» zwei, drei Geländekammern weiter denken, gleichzeitig aber spüren, wann man agil tagesaktuell reagieren müsse, sagt Glättli. «Diese Spannung auszuhalten, ist eine Challenge.»
Als Lisa Mazzone am 6. April einstimmig zu seiner Nachfolgerin gewählt wurde, sei ihm «ein riesiger Stein vom Herzen» gefallen, erzählt er. «Nun wusste ich die Grünen in neuen, guten Händen.»
Die Schweizer Politik hat in den letzten Jahrzehnten Parteipräsidentinnen und -präsidenten auch schon regelrecht verschlungen. Etwa Ursula Koch. Die ehemalige Zürcher Stadträtin euphorisierte mit ihrer Rede im Juni 1997 die SP-Delegierten und wurde als erste Frau zur SP-Präsidentin gewählt – gegen den grossen Favoriten Andrea Hämmerli.
Nur drei Jahre später, am 15. April 2000, gab sie das SP-Präsidium wieder ab. Massiver parteiinterner Druck und gesundheitliche Gründe sorgten dafür. Danach verschwand sie aus der Öffentlichkeit – bis heute.
Deutlich kürzer dauerte die Amtszeit von Rolf Schweiger als FDP-Präsidenten. Im April 2004 trat er das Amt an – und im November musste er wegen eines Burn-outs zurücktreten. Schweiger thematisierte die Krankheit offen: «Die damit verbundenen Erschöpfungszustände und Blockaden verunmöglichen es mir, die mir übertragene Verantwortung weiterhin angemessen wahrzunehmen.»
Aktuelle und ehemalige Präsidenten sehen oder sahen ihren Job aber keineswegs nur als Belastung. «Ich empfinde das Amt als grosses Privileg», sagt Cédric Wermuth. Und Balthasar Glättli hält fest: «So gross die Herausforderung ist: Wer mit Leib und Seele Politiker ist, hat hier auch einmalige Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, strategisch die Richtung zu weisen, Wichtiges aufzugleisen und die richtigen Leute an den guten Stellen zu positionieren.»
Im Vergleich zu den Zeiten von Ursula Koch und Rolf Schweiger haben sich die Voraussetzungen grundlegend geändert. Das hat mit Handy, Internet und Social Media zu tun. Als Ursula Koch SP-Präsidentin war, sass Glättli als Fraktionspräsident der Grünen/AL noch im Gemeinderat der Stadt Zürich – ohne Handy.
«Das ist heute undenkbar», sagt er. Die zeitliche Taktung sei in den letzten Jahren viel enger geworden. Als Präsident habe er oft «Telefonzentrale» gespielt. Vor allem jüngere Journalisten würden häufig den Präsidenten anrufen. «Antwortete ich nicht nach zehn Minuten, versuchten sie es woanders – und die Grünen kamen nicht mehr vor.»
Das hat mit dem Stress zu tun, dem Journalistinnen und Journalisten heute ausgesetzt sind. Geschieht etwas, müssen sie online «just in time» produzieren. Zu den Zeiten von Koch und Schweiger war das noch anders. Mark Zuckerberg gründete Facebook im Februar 2004, genau zwei Monate vor Schweigers Wahl zum FDP-Präsidenten. Als Steve Jobs am 9. Januar 2007 das erste iPhone vorstellte, hatte Schweiger längst demissioniert.
Mit dem Tempo des Social-Media-Zeitalters kämpfen alle Präsidenten. «Zu Beginn meiner Amtszeit nahm ich jeden Anruf eines Journalisten oder einer Journalistin sofort entgegen», sagt Thierry Burkart. «Doch ich habe gelernt, ab und zu abzuwarten, bis die Anfrage per Nachricht eintrifft.» Damit könne er auch auf Parteikolleginnen oder Parteikollegen verweisen.
Für Burkart war mit dem neuen Amt ein Lernprozess verbunden. Er habe eingesehen, dass ein Präsident nicht alles lenken könne: «Es braucht ein Gleichgewicht zwischen Führungsanspruch auf der einen sowie Vertrauen und Gelassenheit auf der anderen Seite.» Als Präsident sei er vielen Ansprüchen ausgesetzt. Er habe gelernt, «dass man nicht alle erfüllen kann».
Burkart findet Erholung in der Natur, beim Spaziergang mit dem Hund, beim Reiten und Lesen. Auch plant er private Zeit mit seiner Partnerin ein und gelegentlich – «leider zu selten» – ein gemütliches Beisammensein mit Freunden. Zudem nutzt er die zwei längeren Ruhezeiten, welche die Politik bietet: zwischen Weihnachten und Neujahr und ein bis zwei Wochen im Hochsommer.
Besonders wichtig für ihr Wohlergehen halten die Präsidenten eine gute Einbettung in ihre Partei. Für Cédric Wermuth ist das gar die zentrale Lehre aus seinen dreieinhalb Jahren an der SP-Spitze. «Man muss das Präsidium einer Partei im breiten Sinne als Teamprojekt angehen», sagt er. «Das bringt den Erfolg.»
Wie wichtig war für ihn die zweimonatige Auszeit? «Sie hat zuerst uns als Familie gut getan», sagt er. «Mich hat sie einerseits nochmals Demut gelehrt für das wahnsinnige Glück, in der Schweiz geboren worden zu sein.» Andererseits tue die Distanz von Bundesbern gut: «Es relativiert viele Debatten – und auch die eigene Bedeutung.»
In seiner Klosterwoche hat sich auch Gerhard Pfister gut erholt. «Ich habe viel gelesen», sagt er. Er entwickelt mit der Partei die Strategie 2033. Aller Anstrengungen zum Trotz teilt er nach wie vor die Auffassung von Franz Müntefering, dem ehemaligen deutschen Vizekanzler. Der Parteipräsidentenjob sei, hatte dieser gesagt, «das schönste Amt neben dem Papst». (aargauerzeitung.ch)