Im Mai war Schluss: Uwe Jocham musste bei der Berner Inselspital-Gruppe seinen Chefposten räumen. Es war der unrühmliche Schlusspunkt einer schwierigen Beziehung zwischen dem umstrittenen Manager und dem Universitätsspital. Der Konflikt war vorprogrammiert: Jocham, ein ausgebildeter Apotheker, der bei CSL Behring als Manager Karriere gemacht hatte, wollte mehr Einnahmen und tiefere Kosten, medizinische Anliegen waren sekundär, wie seine Kritiker monieren.
So einfach ist es wohl nicht, auch wenn sich Jochams Fachrucksack auf den Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät der Universität Bern beschränkt. Finanziell ist das Rezept «Manager statt Arzt» aber nicht aufgegangen: Die Inselspital-Gruppe schrieb 2023 einen Verlust von knapp 113 Millionen Franken.
Rausgestellt wurde Jocham vom früheren Berner Regierungsrat und Insel-Verwaltungsratspräsidenten Bernhard Pulver. Auch er ein Mann ohne medizinische Erfahrung. Die beiden sind aber als Fachfremde in der Spitalführung keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Das zeigt jedenfalls eine Studie der Beratungsfirma Muller Healthcare Consulting, welche die Zusammensetzung der Verwaltungs- und Stiftungsräte sämtlicher Akutspitäler in der Schweiz analysiert hat: Überraschenderweise sei die Expertise im Kerngeschäft der Spitäler - Medizin und Pflege - in fast einem Viertel aller Spitäler gar nicht repräsentiert, halten die Studienautoren fest.
Insgesamt kommen nur 18 Prozent der Verwaltungsratsmitglieder aus der Medizin, nur gerade 6 Prozent aus der Pflege. 76 Prozent kommen aus fachfremden Sparten, aus der Wirtschaftswelt, dem Bau oder dem IT-Wesen. Und aus der Politik.
Oder anders gesagt, rund ein Drittel der Mitglieder im obersten Führungsgremium verfügt über ein medizinisches Wissen. In Solothurn wie in Luzern etwa bringen dieses von den acht amtierenden Verwaltungsratsmitgliedern drei mit. Ähnlich sieht das Muster bei der Inselgruppe aus, am Universitätsspital Zürich sind es auf neun Personen zwei Ärztinnen und zwei mit Pflegeerfahrung, am St.Galler Kantonsspital drei Mediziner und eine Pflegeexpertin.
Frauen sind in den Verwaltungsräten der Spitäler gemäss der Auswertung von Muller Healthcare Consulting in der Minderheit, Spezialisten aus dem Ausland praktisch inexistent. Das Fazit der Beratungsfirma in aller Kürze: «Die obersten Führungsebenen bestehen zu einem bedeutenden Anteil aus ‹älteren› Herren schweizerischer Nationalität.»
Ein politisches Netzwerk ist dabei offensichtlich von Vorteil. Das zeigte sich etwa beim Versuch der Luzerner Kantonsregierung, das Präsidium ihrer kantonalen Spitalgruppe mit dem FDP-Ständerat Damian Müller zu besetzen. Müller hätte sich dieser Aufgabe zwar «sehr gerne, hoch motiviert und mit grossem Elan gewidmet», wie er selber festhielt, verzichtete aber dann darauf, als die Kritik an seiner Ämterkumulation im Gesundheitsbereich nicht abriss.
Kein Thema bei der ganzen Polemik war Müllers fehlende medizinische Expertise. Für die Verteilung von Posten in den obersten Führungsgremien zählen andere Qualitäten. So will der neue Verwaltungsratspräsident der Solothurner Spitäler, alt Nationalrat Kurt Fluri (FDP), seine fehlende Medizinkenntnis mit seinen guten Verbindungen in die Politik wettmachen, wie er in einem Interview sagt.
Ärzte mit einem Leistungsausweis seien heute in den obersten Führungsgremien der Spitäler nicht ausreichend vertreten, sagt der Herzchirurg Thierry Carrel, der bis 2020 die Klinik für Herz und Gefässchirurgie des Inselspitals leitete. «Irgendwann in den 1990er-Jahren sind sie aus den Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten zunehmend ausgeschieden und durch fachfremde Kräfte ersetzt worden, die das Kerngeschäft nicht kennen», so Carrel. Das sei nicht gut: «Praxiswissen ist wichtig.» Das zeigt die Situation in den USA oder auch in Skandinavien, wo Kliniken und Spitäler in der Regel von Ärzten geleitet werden. Studien belegen, dass unter den besten Spitälern jene rangieren, die von Ärztinnen und Ärzten geführt werden.
Die gute Leistung von ärztegeführten Spitälern kommt für Andreas Haefeli, einen erfahrenen Hausarzt und langjährigen Verwaltungsrat des Kantonsspitals Baden, nicht überraschend. Für eine Beurteilung, was die Bedürfnisse der Bevölkerung sind, was im Einzugsgebiet fehlt, wie sich die regionale- und überregionale Versorgungssituation nicht nur numerisch, sondern auch qualitativ verändert und was die Zukunft von der Medizin abverlangt, dafür sei die ärztliche Expertise zwingend, sagt Andreas Haefeli. «Ein Verwaltungsrat, der gewinnorientiert arbeiten will, braucht einen Vorsprung an Wissen. Dieses ist in den Köpfen der Chefärzte meist vorhanden. Es muss aber abgeholt und richtig eingebracht werden.»
Diese Haltung teilen längst nicht alle Spitalleitungen. Ärzte sind nicht einfach aus den Gremien «ausgeschieden», vielmehr werden sie bewusst draussen gehalten. Dieses Bild jedenfalls ergibt sich aus zahlreichen Gesprächen mit Headhuntern und Spital-Verwaltungsräten. Einer gibt offen zu: «Unsere Aufgabe besteht darin, 90 Prozent der Anträge der Ärzteschaft abzulehnen.» Der Grund sind die ständigen Forderungen. Dabei rechne sich der Ausbau der Infrastruktur, ein neues Angebot oder ein neues Gerät allzu häufig für das Spital nicht.
Bei der Rekrutierung neuer Verwaltungsräte richtet sich der Fokus darum zunehmend auf einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund statt auf einen medizinischen. Die Überlegungen sind zwar nachvollziehbar, ein Spital muss wirtschaftlich funktionieren. Die roten Zahlen, welche die Schweizer Spitäler reihum präsentieren, zeigen aber: Manager können es nicht besser.
Ein Spital-Experte aus der Verwaltung, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt, jetzt schlage die Stunde der Wahrheit. «Bis vor ein paar Jahren war es schwierig, ein Spital runterzuwirtschaften, die Kantone standen stets zur Seite. Ein Spitaldirektor musste nicht visionär sein, privatwirtschaftliches Denken fehlte weitgehend.» Die Zeit der Schönwetterdirektoren sei nun vorbei. «Nun wird für alle sichtbar, wer umsichtig und zukunftsorientiert agierte - und wer sich dank staatlicher Unterstützung seit Jahren durchwurstelt.»
Was bedeutet das also für die Besetzung der Führungsgremien? Im Verwaltungsrat brauche es einen «guten Mix», sagt der Thurgauer Gesundheits- und Finanzdirektor Urs Martin. Direkt im Verwaltungsrat der wirtschaftlich erfolgreichen Spital Thurgau AG ist der Kanton nicht vertreten. Als Eigentümerin wählt die Kantonsregierung aber deren Mitglieder und erlässt die Eigentümerstrategie. Im obersten Strategiegremium sitzen dort nebst Juristen und Ökonomen auch der Hausarzt Bruno Haug und der Basler Professor für Viszeralchirurgie Markus von Flüe.
Urs Martin ist überzeugt, dass es die ärztliche Expertise braucht. Der Regierungsrat habe bei der Besetzung einzig darauf geachtet, dass es zu keinen Interessenkonflikten zwischen Ärzten und zu erbringenden Leistungen kommt. «Überhaupt ist für den Erfolg des Spitalbetriebs viel entscheidender, dass sich der Kanton nicht in die operativen Geschäfte des Spitals einmischt», sagt Martin.
Das ist leicht gesagt. Denn je nach Kanton ist das unterschiedlich geregelt. Im Kantonsspital Freiburg sitzt Gesundheitsdirektor Jean-François Steiert im Verwaltungsrat, das Spital Triemli in Zürich ist eine Dienstabteilung des Umwelt- und Gesundheitsdepartements der Stadt Zürich. Beides sind Spitäler, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Der Blick in die Geschäftsberichte der Spitäler zeigt jedenfalls: Misswirtschaft und Überambitionen stehen in keinem kausalen Zusammenhang mit Ärzten in der Führungsriege. Es gibt Spitäler, die schaffen sich einen Operationsroboter für Millionen von Franken an, obwohl ihn von den angestellten Ärzten niemand bedienen kann. Es gibt Spitalbauten, die Palästen gleichen, die im Aufwand unendlich teuer sind, aber keine Ärztebüros mehr vorsehen. Es gibt top moderne Bettenstationen und Operationssäle, die geschlossen werden müssen oder leer stehen, weil das Personal fehlt.
Die Frage ist daher weniger, ob es Sinn ergibt, das medizinische Wissen in die strategischen Entscheide eines Spitals einzubinden. Sondern wie das geschieht. «Auch ein Arzt kann nicht jeden Ausbau, jede neue Maschine beantragen, wenn er Budgetverantwortung trägt», sagt der langjährige Verwaltungsrat und Arzt Andreas Haefeli. «Er weiss aber eher, wann ein Antrag aus dem medizinischen Bereich die erwarteten Ziele nicht erreicht - und wann sich eine Anschaffung stärkend auf die Position des Spitals auswirkt.»
Eine andere Frage ist die Besetzung der Geschäftsleitung. Denn ein Spitalbetrieb ist kein «normales» Unternehmen. Die Zugpferde, das Spitzenpersonal, sind die Chefärzte. Die Erwartungen an sie sind teilweise gigantisch: Sie müssen nicht nur Abteilungen leiten, ein Budget schreiben können, junge Menschen ausbilden, sondern auch alle schwierigen Eingriffe machen und dabei noch Top-Resultate abliefern. Sie besorgen das Prestige: Denn sie sind vielfach der Grund, warum die Menschen in ein bestimmtes Spital zur Behandlung kommen.
Die Verlockung ist gross, sie angesichts ihres hohen Werts auch in die Geschäftsleitung einzubinden. Doch birgt dies auch das Risiko, dass die Chefärzte ihre jeweiligen «Königreiche» verteidigen wollen. Wenn ein Arzt Prestige liefern soll, muss er auch die Möglichkeit haben, sich zu beweisen. Eine solche Ambition ist an grossen Spitälern vielleicht gewollt.
Doch führt das bereits bei mittelgrossen Regionalspitälern zu Problemen: Hochqualifizierte und dekorierte Ärzte werden mit falschen Versprechen an ein Spital gelockt, das sich eine Spezialisierung in einem Fachgebiet gar nicht leisten kann. Auch das ist aber letztlich ein Führungsproblem, wenn statt einer exzellenten Grundversorgung die Klinikchefs von komplexen Bauchoperationen träumen.
Das krisengeschüttelte Inselspital hat nach den managergetriebenen Jahren nun eine Kehrtwende gemacht - und ein neues Gremium geschaffen, das «Kollegium der Chefärztinnen und Chefärzte». Dieses erhält bei weitreichenden Entscheiden ein «mehrheitsbasiertes Wiedererwägungsrecht». Zudem nimmt ein Mitglied des Kollegiums Einsitz ohne Stimmrecht in der Direktion.