Ich konnte mein Leben lang nicht rülpsen. Eine kleine Dysfunktion, die mit diversen diffusen Symptomen einhergeht: Blähungen, Übelkeit nach dem Essen und Magenbrennen bis hin zur Speiseröhrenentzündung. In meiner Kindheit und meinen Teenie-Jahren bescherte mir das eine medizinische Odyssee – die ins Nichts führte. Nachdem ich etliche Male enttäuscht und von Ärztinnen und Ärzten für meine Probleme belächelt wurde, gab ich auf.
Erst über 10 Jahre nach meiner letzten vergeblichen Arztkonsultation sollte ich im Internet auf den Begriff stossen, der all meine Symptome erklärte: R-CPD (retrograde cricopharyngeal dysfunction) – die Unfähigkeit, zu rülpsen. Und: Es gab eine Behandlung.
Allerdings war Geduld gefragt. R-CPD wurde erst 2019 erstmals medizinisch beschrieben, die Studien zur Behandlung steckten noch in Kinderschuhen. Aus diesem Grund musste ich trotz der gefundenen Lösung noch drei Jahre lang warten, bis die Behandlung auch in einem Schweizer Spital angeboten wurde. Im vergangenen Dezember hatte ich schliesslich die erste Abklärung im Kantonsspital St.Gallen und wenige Wochen darauf erhielt ich den Termin, der mein Leben verändern sollte: der 3. Mai 2024.
Eine Chronologie der Ereignisse rund um die OP, die mich mit Narkose-Angst, einem ungebetenen Gast und neuen gesundheitlichen Problemen auf die Probe stellten. Und die grosse Frage: Kann ich jetzt rülpsen?
Für eine richtige Vorher-Nachher-Erfahrung wollte ich es bei meinem letzten Zmittag im Büro noch einmal wissen. Ich gönnte mir meinen Feind Nummer 1: Kohlensäure. Dazu gab es eine grosse Pizza – Feind Nummer 2: sehr fettige Speisen. Die Wirkung stellte sich nach dem Essen ein.
Man muss sich das so vorstellen: Die Luft in meinem Magen will raus. Sie bewegt sich nach oben durch die Speiseröhre, wird aber vom sogenannten Musculus cricopharyngeus blockiert und sammelt sich da.
Das fühlt sich etwa so an:
Was dann passiert, ähnelt dem Frosch auch akustisch. Die Luft, die am Durchgang gehindert wird, bewegt sich wieder zurück und erzeugt dabei seltsame, gurgelnde Geräusche.
Das geschieht bei mir nach jeder Mahlzeit, je nach Essen und Getränk manchmal mehr, manchmal weniger. Wenn es ganz schlimm ist, dann hilft mir nur noch der Gang zur Toilette, wo ich «Luft kotzen» muss. In anderen Worten: Ich muss mit dem Finger im Hals den Brechreiz triggern, damit ich die Luft auf gewaltsamem Wege rauswürgen kann.
So weit kam es überraschenderweise trotz Kohlensäure und Pizza nicht, unangenehm «froschig» fühlte ich mich trotzdem. Zum letzten Mal? Ich sollte es bald herausfinden.
Am Vormittag des 2. Mai traf ich im Kantonsspital St.Gallen ein und bezog mein Zimmer. Ich hatte an diesem Tag noch die letzten Abklärungen, darunter diejenige mit der Anästhesistin, wofür ich im Zimmer noch einen ausführlichen Fragebogen ausfüllen musste (denselben, den ich Wochen zuvor bereits ausgefüllt hatte und ans Spital schicken musste, aber was soll's). Meine Nervosität war gross, meine Erinnerung an die Augen-OP vom vergangenen Jahr noch frisch. Damals erlebte ich nach dem Aufwachen nach der Narkose einen Albtraum.
Nur wenige Minuten nachdem die Narkose nachgelassen hatte, verkrampften sich meine Arme und Beine schleichend bis hin zur kompletten Unbeweglichkeit. Ein Phänomen, für das die anwesenden Anästhesistinnen keine Erklärung hatten. Ich wurde mit Blaulicht ins Unispital Zürich gefahren, wo mich der zuständige Neurologe erst einmal der Simulation bezichtigte. Mit Blick auf meine schmerzhaft in die Höhe angewinkelten Arme meinte er schlicht: «Sie können Ihre Arme sonst schon wieder herunternehmen.»
Wenig später lag ich eine Stunde in der MRI-Röhre, währenddessen die Muskelstarre langsam abebbte. Nach insgesamt zwei Stunden hatte ich die Kontrolle über meine Muskeln wieder zurück, eine Erklärung für diesen Vorfall sollte sich jedoch nie finden.
All das erklärte ich der Anästhesistin im Kantonsspital St.Gallen. Ich legte ihr noch eine Liste der mir bei der Schiel-OP verabreichten Narkose- und Schmerzmittel vor und tat damit alles, was ich tun konnte.
Nervös, aufgeregt, emotional und vorfreudig ging ich an diesem Abend ins Bett. Auch wenn ich nochmals einen solchen Krampf wie nach der Augen-OP haben sollte, ich würde es überleben, sagte ich mir, und dann würde ich mein Leben in vollen Zügen geniessen können.
Weil ich einen äusserst leichten Schlaf habe, schlafe ich niemals ohne Ohrstöpsel und Augenmaske. Auch im Spital machte ich keine Ausnahme – egal, wie dumm ich damit aussehen mag. Ich weiss darum nicht, wie oft die Krankenpflegerin «Guten Morgen» schreien musste, bevor ich um 6 Uhr früh endlich wach wurde.
Ich duschte, zog mir auf Geheiss das Spitalhemd über und legte mich wieder hin. Etwa eine Stunde später wurde ich abgeholt und ratterte mit dem Bett 10 Minuten lang durch die verschiedensten Abteilungen und Gänge des Spitals. Vor dem Operationssaal wurde ich einer äusserst gut gelaunten und pfeifenden Anästhesistin übergeben, die mir kurze Zeit später Morphin und Narkosemittel in die Venen jagte.
Bei der OP wurde mir ein Endoskop durch den Rachen geführt, durch das eine Botoxinjektion in den Musculus cricopharyngeus vorgenommen wurde. Viel kann dabei nicht schiefgehen: Der Muskel soll gelähmt werden, damit er die Luft, die entweichen muss, durchlässt. Bis das Botox nach etwa drei Monaten abgebaut ist, sollten der Muskel und das Hirn gelernt haben, wie man rülpst.
An die kommenden Stunden kann ich mich nur vage erinnern. Ich hatte beim Aufwachen aus der Narkose Atemnot, weswegen mir ein Sauerstoffschlauch an die Nase gesetzt wurde. Viel bekam ich davon nicht mit. Als ich das nächste Mal aufwachte, war ich zurück im Zimmer. Mein Kopf dröhnte, mir war übel und meine Zunge war taub. Aber ich konnte mich bewegen. Die Erleichterung war ebenso gross wie die Erschöpfung und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Nach etwa zwei Stunden erwachte ich wieder. Diesmal war ich mehr bei Bewusstsein und die Erkenntnis schlug ein: Ich hatte es geschafft. Endlich hatte ich die Operation, die mein Leben verändern sollte. Ich vergoss still und leise ein paar Freudentränen und schlief erschöpft, aber glücklich erneut ein.
Ich weiss nicht mehr genau, wie viel Zeit vergangen war, als sich die Tür zum Zimmer öffnete. Mitarbeitende gingen ständig ein und aus, um bei mir oder der Zimmernachbarin irgendwelche Werte zu kontrollieren. Ich war zu müde, um mich umzudrehen oder mich irgendwie zu bewegen. Sie würden mich schon ansprechen, wenn sie etwas von mir wissen mussten.
Ich merkte erst, dass es kein Spitalpersonal sein konnte, als mir ein penetranter Parfümgeruch in die Nase stieg. Lange Rede, kurzer Sinn: Es war ein Mann, den ich noch zuvor in meinem Leben gesehen hatte und der mich mit «Überraschungsgast!» begrüsste.
Mit schwerer, tauber Zunge fragte ich ihn, wer er sei. «Markus Müller* von Instagram», antwortete dieser. Ich war zu perplex, um zu reagieren. Der Name kam mir bekannt vor, er hatte auf einige meiner Instagram-Stories reagiert. Ich teilte meine Reise zum Rülpsen auf meinem öffentlichen Instagram-Profil. Er hätte mich einfach mal persönlich kennenlernen wollen, meinte er.
Ich weiss nicht, wie lang er da war. Fünf Minuten? Zehn Minuten? An die Unterhaltung kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. Ich brachte wie automatisch ein paar Antworten hervor, machte gute Miene zum bösen Spiel, das war einfacher, als irgendwelche Diskussionen zu starten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ging er wieder. Ich sass einen Moment fassungslos im Bett, bevor ich den Knopf drückte und eine Pflegefachfrau über den ungewünschten Gast informierte.
Die Pflegefachfrau leitete sofort alles in die Wege, damit ich keinen unangekündigten Besuch mehr erhalten würde. Wenn ich gewusst hätte, dass man als wildfremder Mensch am Empfang so einfach an die Zimmernummer einer Patientin herankommt, hätte ich meinen Aufenthalt im Kantonsspital St. Gallen selbstverständlich nicht so öffentlich preisgegeben. Und dass jemand diesen Service tatsächlich in Anspruch nehmen würde, um unangekündigt vor meinem Bett aufzutauchen, machte mich sprachlos. Der Vorfall überschattete den Rest des Tages.
Sowohl das Mittagessen, das ich um etwa 14 Uhr einnehmen durfte, als auch das Abendessen konnte ich nicht im Magen halten. Beide Male konnte ich mich mit dem Infusionsgestell gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer retten. Immerhin machte sich dort bereits ein erster Effekt der Operation bemerkbar. Erbrechen mit R-CPD war stets eine Tortur. Der Mageninhalt folgte immer erst nach etlichem trockenen, schmerzhaften Würgen, das mir den Atem raubte. Nun schien ein leichter Brechreiz zu reichen und das Essen folgte ohne grossen Widerstand. Immer noch ekelhaft, aber für mich eine ganz neue Erfahrung.
Am nächsten Tag wurde ich entlassen. Ich hatte noch immer mit Übelkeit zu kämpfen und ass nur wenig. Es war anstrengend. Das Gefühl im Hals war ungewohnt, wenn ich etwas ass, erforderte es höchste Konzentration. Ich hatte stets das Gefühl, das Essen bliebe hängen und musste mit Wasser nachspülen. Bis auf ein leichtes Kratzen hatte ich aber keine Schmerzen, meine Zunge hingegen war noch immer taub.
Am zweiten Tag nach der OP verschluckte ich mich so sehr, dass ich kaum mehr atmen konnte. Aus meinem Hals pfiff und keuchte es, als dränge die Luft bloss durch einen Strohhalm. Ein Problem, das mich die folgenden Wochen noch begleitete. Ein stärkeres Husten oder ein kurzes Joggen auf den Zug brachte mich in Atemnot. Vier Tage nach der OP rief ich deswegen die Ärztin in St.Gallen an, um sie zu fragen, ob das eine übliche Nebenwirkung sei. Sie verneinte und riet mir, mich auf den Notfall im Unispital Zürich zu begeben.
Der dortige Besuch stellte sich als ernüchternd heraus. Die Ärztin auf der HNO-Abteilung hatte noch nie von R-CPD gehört. Sie schaute mir mit der Kamera kurz in den Hals, entdeckte nichts Auffälliges und schickte mich wieder nach Hause. Ich solle das noch beim Hausarzt abklären. Der war allerdings ebenso ratlos, hatte noch nie von R-CPD gehört und gab mir einen Asthma-Spray mit.
Aufgrund des Atemproblems stellte ich mein Rülpsen in den ersten Wochen nicht direkt mit Kohlensäure auf die Probe. Ich ass nur Lebensmittel, von denen ich wusste, dass ich sie gut vertrage. Erste Rülpschen machten sich dennoch schon bemerkbar – immer komplett unkontrolliert und bei leichten Reizen oder einem Druck auf den Brustkorb. Beispielsweise beim Niesen, beim Husten oder beim Gähnen.
Drei Wochen nach der OP – die Zunge hatte sich bis dahin komplett erholt – wagte ich mich mit immensem innerem Widerstand an die ersten kohlensäurehaltigen Getränke. Meinem Hirn missfällt es noch immer, dass ich mir Dinge zuführe, die mich aus Erfahrung miserabel fühlen lassen. Das ist auch jetzt noch – Stand vier Wochen nach der OP – der Fall. Wohl zu Recht: Die Luft sammelt und staut sich noch immer im Hals und die kleinen Rülpschen reichen nicht aus, um mir Linderung zu verschaffen. Nur ganz vereinzelt entweicht mir ein tatsächlich erlösender Rülpser.
Drei oder vier Mal wurde die angesammelte Luft so unerträglich, dass ich mich für einen traditionellen «Luftkotzer» ins Badezimmer zurückziehen musste. Da ergab sich immerhin eine grundlegende Verbesserung: Musste ich vor der OP den Brechreiz wortwörtlich mit dem Finger herauskitzeln, bis ich die Luft herauswürgen konnte, ist das nun nicht mehr nötig.
Sobald ich mich über die Kloschüssel beuge, weiss mein Hirn bereits, was folgt und der gelähmte Muskel lässt es zu. In anderen Worten: Ich ... rülpse?
Zu «normalen» Rülpsern – abseits der Kloschüssel – kommt es bisher nur selten. Wenn sich die Luft an den besagten Muskel drängt, scheint mein Hirn den ungewohnten Reiz im Alltag unterbinden zu wollen. Verständlich, spürte ich diesen Reiz meinen Leben lang nur, wenn ich über der Kloschüssel hing. Das nun plötzlich zuzulassen, kostet Überwindung und wohl auch Übung.
Die Ärztin empfahl mir, den Muskel mit Kohlensäure etwas mehr herauszufordern. Ich habe es versucht, doch zu einem Durchbruch ist es bisher nicht gekommen. Einen Hoffnungsschimmer gibt es aber noch: die Logopädie. In Anbetracht des bisher bescheidenen Fortschritts wurde ich für eine Sitzung aufgeboten, in der ich dem Muskel mit Übungen auf die Sprünge helfen soll. Sollte auch das nicht helfen, könnte eine zweite OP Abhilfe schaffen, aber so weit möchte ich noch nicht denken.
Ich versuche, optimistisch zu bleiben – immerhin an Übungsmaterial mangelt es mir nicht: Plötzlich habe ich schier unendliche Getränkemöglichkeiten. Und statt einem Froschkonzert biete ich hoffentlich bald ein Rülpskonzert.
*Name geändert.
Dass sich jemand erdreistet, einfach uneingeladen im Spital aufzukreuzen, in deinem verletzlichsten Zustand empfinde ich als enorm übergriffig.
Ich hoffe, du bringst trotzdem weiterhin Updates auf Insta, denn ich würde nichts lieber lesen/sehen, als dass der Zustand Schritt für Schritt besser wird.
Gute Besserung und auf viele erlösende Rülpser in der Zukunft!
Salome eine Teilschuld für den Stalkerbesuch zuzuschieben ist sowas von dabenen. Täter-Opfer-Umkehr, schon mal gehört?
Zum Mitschreiben: Ein ungefragter Spitalbesuch bei einer Person die du nicht kennst, ist NIE ok, ffs! Egal ob sie jedes Detail auf Insta postet oder nichts!
Gute Erholung, Salome. Tut mir leid, dass du das miterleben musstest und ich wünsche dir, dass der Logopädie-Ansatz hilft!