Düster ist's im Val Lumnezia, nicht nur wegen des Nebels, der an diesem Abend über dem Bündner «Tal des Lichts» hängt. Düster ist auch die Stimmung im Gemeindesaal von Vrin zuhinterst im Tal. Rund 150 Vriner hocken auf den Stühlen und schauen nach vorne, wo ein paar Bergbauern über die Leinwand flimmern und erzählen, wie sie profitieren könnten – profitieren vom Nationalpark Parc Adula im Grenzgebiet zwischen dem Tessin und der Bündner Surselva. Die Idee für den neuen Nationalpark hatte Pro Natura im Jahr 2000. Seither ist das beschauliche Vrin politische Kampfzone.
14 Bündner und drei Tessiner Gemeinden stimmen am 27. November über das Projekt ab. Es liegt in ihren Händen, ob die Schweiz einen zweiten Nationalpark erhält – vorerst für zehn Jahre, danach gäbe es eine erneute Abstimmung. In der 145 Quadratkilometer grossen Kernzone des Parks würden strenge Umweltschutzregeln gelten, um die menschliche Einwirkung auf die Natur zu minimieren. Umgeben wäre die Kernzone von der 1085 Quadratkilometer grossen Umgebungszone, in der man weiterhin nachhaltig wirtschaften dürfte. Damit wäre der Parc Adula fast so gross wie der Kanton Aargau. Jährlich flössen von Bund und Kantonen gut fünf Millionen Franken in die Region. Die Gemeinden selber müssten maximal 10 000 Franken investieren. Eigentlich ein guter Deal.
Wäre da nicht die «Charta», das 400-seitige Handbuch, das festlegt, welche Regeln im Park gelten sollen, und das die lokalen Gemüter erhitzt. 90 Tage lang konnten die Bewohner und Vereinigungen wie der Schweizer Alpen-Club SAC oder die Bündner Jäger die Charta einsehen und Änderungswünsche anbringen. 730 Anträge sind eingegangen, zum Beispiel jener der Armee, die eine Sonderregelung für ihren Panzerschiessplatz im Nationalparkgebiet verlangte (und erhielt) oder des SAC, der forderte, dass man in der Kernzone uneingeschränkt wandern und Schneeschuhtouren unternehmen können müsse (vergeblich). Monatelang suchte man nach Kompromissen. Seit Anfang Oktober liegt die definitive Charta vor.
Trotz definitiver Charta: Sicher ist noch gar nichts. Befürworter und Gegner des Nationalparks liefern sich weiterhin einen erbitterten Kampf. Keiner bekommt das mehr zu spüren als Martin Hilfiker. Er ist Direktor des Nationalparkprojekts und kämpft an vorderster Front für den Parc Adula. Mit seinem ganzen Team ist er derzeit auf Werbetour in der Surselva, jeden Abend Werbefilm, Diskussion, Apéro. Hilfiker sitzt im Vriner Gemeindesaal und sagt: «Das Nationalparkprojekt ist voller Kompromisse. Alle sind ein bisschen unzufrieden. Es ist typisch Schweiz.» Mit seinem Team hat er jahrelang Meinungen eingeholt, Regelungen angepasst und Fragen geklärt. Mehr als 80 Projekte – von Trockenmauer-Sanierungen über Kirchenrenovationen bis hin zu neuen Ziegentrekking-Angeboten – haben sie umgesetzt, mehr als zehn Millionen Franken investiert. «Die technischen Fragen sind geklärt, viele Projekte gut angelaufen. Doch jetzt, in der heissen Schlussphase, zählt wieder nur das Bauchgefühl», sagt Hilfiker.
Der Ökonom mit Parc-Adula-Gilet und stählernen Nerven wiegt genau ab, was er sagt. Er will Wogen glätten, keine stürmischen Debatten lancieren. Aber so ganz kann er schon nicht verstehen, wieso sich so viele Menschen gegen das Projekt auflehnen. «Diese Randregionen könnten mit dem Park Werbung für sich und ihre Produkte machen. Es stünde Geld zur Verfügung, um die Projekte weiterzuführen. Manche wollen trotzdem nichts vom Park wissen.» Hilfiker aber kämpft unbeirrt weiter. Für ihn ist das eine ganz persönliche Sache. «Mein Grossvater wanderte 1922 aus der Schweiz aus, weil er keine Perspektive mehr hatte. Ich will verhindern, dass es den Menschen hier ähnlich ergeht, weil sie kein Auskommen mehr finden.» Der Nationalpark könnte da Abhilfe verschaffen. Es gäbe 18 neue Vollzeitstellen, immerhin.
Doch manch ein Talbewohner fühlt sich durch den Nationalpark existenziell bedroht. Die Adula-Gegner sind gut organisiert. Im Dorf haben sie Plakate aufgehängt, auf denen ein Indianerhäuptling zu sehen ist und neben ihm der Spruch: «Die Indianer haben ihr Land für eine Illusion verkauft. Machen wir nicht das Gleiche. Nein zum Parc Adula.» Wilder Westen im wilden Osten. In Leserbriefen äussern die Park-Gegner ernsthafte Bedenken darüber, dass die Einwohner der Adula-Gemeinden bald in einem von Bundesbern kontrollierten «Reservat» leben müssten.
Diese dramatischen Töne seien nötig, findet Thomas Meier. «Das Nationalparkgebiet, das ist unser Garten. Man will uns das Recht nehmen, sich darin frei zu bewegen», sagt er im Vriner Gemeindesaal. Meier ist Hüttenwart in der SAC-Länta-Hütte. Und er regt sich auf über diese Menschen beim Bund und vom Parc Adula, die dem SAC nicht zuhören wollten und den Jägern zu viel Glauben schenkten und mit dem Nationalpark-Label inflationär um sich werfen würden und der Region sicher überhaupt nichts brächten. «Wir verzichten hier schon auf viel. Jetzt kann man uns nicht auch noch unsere Freiheit nehmen», sagt Meier.
Die deutlichsten Worte im Vriner Gemeindesaal findet Leo Tuor, Romanautor, Schafhirt, lokale Legende. Tuor schimpft über den «Labelwald» und über den «Parksalat», mit dem man die schöne Wildnis hier verschandeln wolle. «Ihr seid todlangweilig. 16 Jahre und 10 Millionen und ihr habt nichts Neues geschaffen», ruft Tuor in den Saal, zuerst auf Rumantsch, dann auf Dialekt, damit's auch die Anzugträger vom Bundesamt für Umwelt in der vordersten Reihe verstehen. «Wir wollen selber bestimmen, wie wir unsere Alpen gestalten», ruft Tuor. Ihre Alpen, sie seien bedroht durch die fremden Planer mit ihren Labels und ihren Tourismusideen. Dabei brauche es keine Pärke, keine Labels und keine Bundesmillionen, um die Täler zu retten. «Dazu brauchen wir nur eines: Kinder», ruft Tuor, der den Nationalpark-Promotoren seit Tagen nachreist und in allen Gemeindesälen der Surselva dasselbe verkündet. Und vielleicht bräuchte es auch Touristen, könnte man einwerfen. Die Surselva leidet unter den rückgängigen Besucherzahlen. Im vergangenen Winter kamen acht Prozent weniger Besucher als noch im Vorjahr. Ein schmerzhafter Einbruch.
Und was meinen die Vriner Bürger? Vorerst nicht viel. Sie warten ab. Sprechen werden sie in einem Monat, an der Urne. Prognosen sind schwierig, da sind sich Befürworter und Gegner einig. Die autoritätsgläubigen Bündner, die seien kritisch, weil sie sich durch die neuen Regeln eingeschränkt fühlen würden. Die Einwohner der drei Tessiner Gemeinden hingegen, die sähen das lockerer, weil sie ein unverkrampftes Verhältnis hätten zu Regeln und Gesetzen, tönt es aus Vrin. Das sind gute Neuigkeiten für die Nationalpark-Befürworter. Denn auf eine Gemeinde kommt es am 27. November besonders an: Blenio. Weil das Dorf einen grossen Anteil an der Kernzone hat, ist seine Zustimmung unbedingt nötig, um den Park realisieren zu können.
Weniger zentral ist das kleine Sumvitg. Trotzdem hat das 1300-Seelen-Dorf diese Woche für Aufruhr gesorgt. Am Wochenende stimmte die Bevölkerung in Sumvitg nämlich schon mal über das Parkprojekt ab, weil dies die Dorfverfassung so vorsieht. Es seien so viele Menschen an die Versammlung gekommen wie kaum je zuvor, sagt Gemeindeschreiber Fabian Collenberg. Resultat: 55 waren für den Nationalpark, 153 dagegen. 74 Prozent Nein-Stimmenanteil. Ein deutliches Zeichen, aber kaum das letzte Wort in der Causa Adula.