Die Verschwörungsbewegung QAnon aus den USA breitet sich in der Schweiz aus. Ihre absurde Überzeugung: Ein Ring aus pädophilen Politikern und unbekannten Strippenziehern kontrolliere die Welt. US-Präsident Donald Trump ist ihr Held, der dagegen kämpft - zusammen mit einem angeblichen Geheimdienstler, der auf obskuren Websiten unter dem Namen «Q» Nachrichten hinterlässt. Sekten- und Religionsexperte Georg Schmid erklärt, was den Verschwörungsglauben so interessant macht.
Herr Schmid, wie kann es sein, dass eine bizarre Verschwörungsbewegung wie QAnon in der aufgeklärten Schweiz Fuss fasst?
Georg Schmid: QAnon ist interessant für Menschen, die ohnehin zu Verschwörungstheorien neigen. Die misstrauisch sind gegenüber den Medien, gegenüber der Wissenschaft, dem Schulunterricht. Es ist eine Theorie, die die Welt extrem vereinfacht.
Sie unterteilt die Welt in Gut und Böse.
Ja. Wenn wir, die nicht an QAnon glauben, die Frage beantworten müssten, was eigentlich unsere Gesellschaft steuert, ist das extrem schwierig. Wenn man QAnon vertritt, ist es ganz einfach: Es ist der «Deep State», der «Staat im Staat». Das ist einer von zwei Faktoren.
Was ist der Zweite?
Glaubt man an eine Verschwörungstheorie, gehört man zu denjenigen, die den Durchblick haben. Man fühlt sich selbst einer Elite zugehörig. Im Gegensatz zu den «Schlafschafen» ist man «erwacht», kennt die angebliche Wahrheit. Das verschafft der Person eine immense Bedeutung.
Wie gross ist der Anteil der Menschen in der Schweiz, die zu Verschwörungstheorien neigen?
Eine neue Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kam zum Schluss, dass in Deutschland elf Prozent der Gesamtbevölkerung eine verschwörungstheoretische Weltsicht vertreten. In der Schweiz ist die Zahl sicher nicht kleiner. Und: Der Anteil hat in den letzten Jahren klar zugenommen.
Sie sagten, 100'000 Schweizer glaubten an unterschiedliche Teile der QAnon-Bewegung. Eine Zahl, die Angst machen kann.
In Schweiz gibt es rund 300'000 esoterisch orientierte Menschen. Da einflussreiche Esoteriker QAnon in ihr Weltbild eingebaut haben, gehe ich davon aus, dass etwa 100'000 Esoterik-orientierte Schweizer irgendwelche Teile der Theorie glauben. Die nicht-esoterischen QAnon-Fans sind wohl ebenfalls so zahlreich. Deshalb halte ich eher die Zahl von 200'000 Menschen für plausibel.
Während der Coronakrise haben Verschwörungsbewegungen grossen Auftrieb erhalten. Ist es geschichtlich normal, dass es in grossen Krisen zu solchen Bewegungen kommt?
Ja. Verschwörungsbewegungen sind in Ausnahmesituationen eigentlich die Regel. Meistens gehen sie wieder vergessen, so dass man im Geschichtsunterricht nichts darüber lernt. Aber zum Beispiel während der Pest gab es ja die Legende, Juden hätten die Brunnen vergiftet. Während der Spanischen Grippe 1918 gab es ähnliche Behauptungen, irgendwelche Menschengruppen hätten die Krankheit verursacht.
Früher rückte die Menschen in Krisen doch näher zum Glauben, gingen in die Kirche. Warum ist es heute anders?
Das gibt es auch jetzt. Online-Gottestdienste hatten während dem Lockdown extrem hohe Zugriffszahlen. Es sind also zwei Trends: Rückkehr zum Glauben für Leute, die eine lose Bindung zur Kirche haben. Und ein Flüchten in Verschwörungstheorien, für diejenigen, die Halt suchen, die aber zu keiner Religion mehr gehören. QAnon ist für sie eine Ersatzreligion.
Für QAnon-Anhänger ist Donald Trump der Erlöser. Esoteriker himmeln Wladimir Putin an. Warum sind zwei Politiker, die Tausende Kilometer entfernt sind, für Schweizer Verschwörungsgläubige so wichtig?
Die Entfernung ist wichtig. Sie sind so weit weg, man kennt ihre Nachteile nicht. Putin kann man sich schön träumen, wenn man in der Schweiz lebt - und die Unterdrückung sowie die wirtschaftliche Lage nicht erlebt. Ein wesentlicher Faktor ist zudem, dass die Verschwörungstheorien teils aus Putins Küche kommen. Seine Geheimdienste und russische Staatsmedien streuen diese aktiv. Klar, ist dann Putin der Grösste.
Und Trump?
Seine Wichtigkeit unter Esoterikern kommt komplett von QAnon. Es hat in der Schweiz viel gebraucht, bis die Szene Trump als Heilsbringer akzeptierte. Es gibt sogar solche, die das Märchen der satanistisch-pädophilen Elite vertreten, den US-Präsidenten aber einfach nicht erwähnen. Trump ist der Teil in dem Verschwörungsglauben, der in der Schweiz am schwierigsten zu vermitteln ist.
Wie beeinflussen sich Coronaskeptiker, Coronaleugner und QAnon-Anhänger gegenseitig?
In Einzelfällen hat man festgestellt, dass Menschen mit Coronaskepsis von Kollegen auf QAnon hingewiesen werden und den Verschwörungsglauben dann vertreten. QAnon hat sich unter solchen Menschen ausgebreitet.
Was passiert, wenn die Coronakrise vorbei ist? Bleibt das Misstrauen dieser Menschen?
Das hängt auch von der wirtschaftlichen Erholung ab. Aber Verschwörungstheorien hat es immer gegeben und wird es immer geben. Neu ist die netzwerkartige Verbreitung - und dass ausländische Staaten diese gezielt streuen, da die Verunsicherung westlicher Gesellschaften in ihrem Interesse ist. Wir müssen uns überlegen, wie wir uns dagegen wehren können. Sowieso muss der Staat eine Antwort auf Verschwörungstheorien finden.
Was ist Ihr Vorschlag für eine staatliche Antwort?
Man muss Faktencheck-Seiten aktiv fördern. Die müssen gut ausgestattet sein und gut besucht werden, dass sie in Suchmaschinen hoch angezeigt werden. Dass diverse Plattformen Accounts und Gruppen sperren, ist ebenfalls positiv.