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Lehrer Schmidt im Interview: So entstand die Idee der Mathe-Erklärvideos

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Wers in der Schule nicht verstanden hat, kann sich Mathematik zuhause von «Lehrer Schmidt» erklären lassen.Bild: shutterstock
Interview

Warum schafft «Herr Schmidt» auf Youtube, was im Mathe-Unterricht nicht gelingt?

Er ist Schulkindern als «Lehrer Schmidt» bekannt und oft ihre letzte Rettung in Mathematik. Seine Erklärvideos wurden bislang 310 Millionen mal aufgerufen. Im Interview erzählt er, wie er auf die Idee kam, und von wem er die euphorischsten Dankesbriefe bekommt.
07.12.2024, 22:58
sabine Kuster und Patrik Müller / ch media
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Angefangen hat «Lehrer Schmidt» vor knapp zehn Jahren, als er merkte, dass den Schülerinnen und Schülern der Abschlussklasse die nötigen Grundlagen in Mathematik fehlten. Für diese Sekundarklasse machte der deutsche Mathematiklehrer und Schulleiter Kai Schmidt die ersten Erklärvideos, die er auf dem Schulserver ablegte. Da dieser innert kürzester Zeit voll war, schlug ein Schüler 2016 vor, die Videos auf Youtube zu stellen. So entstand eine Sammlung von Erklärvideos, die bislang unfassbare 310 Millionen mal aufgerufen wurden.

Kai Schmid
Kai Schmidt.Bild: aargauerzeitung.ch

Wir erreichen Schmidt an einem Vormittag per Videocall während einer Zwischenstunde in seinem Schulzimmer. Er arbeitet, trotz des riesigen Erfolgs, immer noch zu 100 Prozent als Lehrer und sagt: «Ich bin Lehrer mit Herz. Und das will ich machen bis zur Rente.» Geld verdient er mit Youtube kaum. Zu kaufen gibt es von ihm lediglich Lernhefte für ein paar Euro. Für seine Arbeit als Mathe-Nachhilfelehrer der Nation erhielt Schmidt im Oktober 2024 das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Dass Sie der Influencer unter den Mathe-Lehrern werden würden – hätten Sie das vor zehn Jahren gedacht?
Kai Schmidt:
Ich sehe mich überhaupt nicht als Influencer! Ich beeinflusse nichts.​

Was sind Sie dann?
Ich sehe mich – tatsächlich! – immer noch als Lehrer. Von Berufskollegen unterscheide ich mich nur dadurch, dass ich dieses wunderbare Tool namens Youtube nutze und so mehr als nur meine Schulklasse erreiche.​

Erklärvideo Dividieren.Video: YouTube/Lehrerschmidt

Sie sind der Nachhilfelehrer für Millionen.
Nachhilfe kostet in der Regel viel Geld. Für die meisten meiner Sekundarschüler war und ist das Zukaufen von Nachhilfe keine Option. Ich wollte meine Videos immer frei zur Verfügung stellen.​

Statt zu unterrichten, könnten Sie Ihrer Klasse auch einfach Ihre Videos abspielen. Warum tun Sie das nicht?
Unterricht ist Interaktion, genau das macht ihn und meine Arbeit so spannend. Die Videos sind nur ein Hilfsmittel. Sie tragen dazu bei, mal eben eine kleine Hürde zu nehmen: Ach, so geht das! Dafür sind sie gut. Und sie sind praktisch, wenn ein Kind zum Beispiel langfristig krank ist. Unfassbar beliebt sind sie übrigens bei einer anderen Altersgruppe …​

Bei wem denn?
Rentnerinnen und Rentner betreiben damit Gehirn-Jogging. Sie machen das Video an, warten, bis die Aufgabe steht, drücken stop und gucken, ob sie es noch können.​

In den Kommentaren auf Youtube sieht man tatsächlich, dass viele Erwachsene zuschauen. Sie schreiben: «Jetzt habe ich es endlich verstanden.»
Weit über 50 Prozent meiner Zuschauer sind jenseits der 30. Darunter viele Eltern. Die schauen sich das Video an und erklären es dann den Kindern. Das ist super, aber ich sage häufig: Guckt euch das doch zusammen an, und wenn ich es dann schlecht erkläre, könnt ihr zusammen auf mich schimpfen. Nichts ist explosiver, als den Kindern Hausaufgaben selbst zu erklären. Das kann nur in die Hose gehen. Ich rate immer, das auf Dritte auszulagern.​

Die Leute schreiben auch: «Sie haben mir das kurz erklärt, was mein Lehrer in drei Stunden nicht konnte.» Was machen Sie besser?
Der Vergleich ist unfair. Ich erkläre nicht besser als meine Kollegen. Die Magie ist einzig das Setting: Die Schüler kommen zu mir, wenn sie bereit dafür sind. Ich glaube, das ist der ganz grosse Unterschied zur Mathematikstunde am Montagmorgen. Da müssen sie hin, weil Schulpflicht besteht. Manchmal haben sie einfach keinen Bock. Wenn aber die nächste Klassenarbeit drückt, sind sie aufnahmebereiter und stellen dann fest: «So schwer ist es gar nicht.»​

Erklärvideo Prozentrechnung.Video: YouTube/Lehrerschmidt

Das ist bescheiden, aber aus eigener Erfahrung wissen wir: Es gibt Mathelehrkräfte, die nicht erklären können.
Okay, das kenne ich aus meiner Schulzeit auch. Ich hatte Unterricht bei begnadeten Mathematikern, die leider keine Pädagogen waren. Und wir brauchen in der Schule eben Pädagogen. Die überwiegende Mehrheit sind solche tollen Pädagogen, die ihren Job mit Herzblut ausüben.

Was ist der Unterschied?
Als Pädagoge muss man gewisse Entertainerqualitäten haben – und eine gute Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufbauen können.​

Zeigen Sie deshalb in Ihren Videos Ihr Gesicht?
Ja. Ich dachte zuerst, mein Gesicht sei überhaupt nicht notwendig, und hatte es nicht in den Videos drin. Ich dachte: Hauptsache, ich rechne vor. Erst nach vielen Diskussionen mit meiner Frau änderte ich das. Wir kamen zum Schluss, dass Mathematik auch auf der Beziehungsebene funktioniert.​

Was raten Sie Eltern, die ihrem Kind Mathe erklären wollen?
Es gibt einen schönen Spruch unter Lehrern: «Ich kann es nicht besser erklären, sondern nur lauter.» Im Ernst: Es kommt darauf an, dass man die Kinder im richtigen Moment erwischt. Dann wollen sie auch lernen. Kinder haben nicht immer eine intrinsische Motivation. Häufig ist es eine extrinsische: die nächste Klassenarbeit, die Versetzung oder ähnliches. So dürfen Kinder auch sein, besonders pubertierende Kinder. Die haben einfach andere Dinge im Kopf. Man braucht Verständnis für sie, aber auch Konsequenz. Ich sage auch in meinem Unterricht: «Leute, das steht jetzt an, das ist zu tun.» Es hat Folgen, wenn man dann nicht liefert.​

Bekommen Sie Zuschriften von Kindern, die sich erleichtert zeigen, weil sie es endlich verstanden haben?
Nur selten. In der Regel sind es Eltern oder Omas. Omas machen auch viele Hausaufgaben und sind immer sehr dankbar.​

Wie sieht es denn bei Ihren Kollegen aus? Gibt es da Neid?
Nein, nein, nein. Ich sage immer ganz klar: «Ich kann es nicht besser erklären – das ist Quatsch.» Es ist nur ein anderer Moment, in dem Schüler es nutzen können. Ich habe auch viele Kollegen, die sagen: «Wenn ihr es im Unterricht nicht verstanden habt, schaut es euch bei Lehrer Schmidt noch mal an.» Genau dafür ist es ja gedacht.​

Welche mathematischen Fragen fehlen in Ihrer Videosammlung noch?
Kleinigkeiten. Es gibt zum Beispiel noch einige Lücken im Bereich Trigonometrie. Ich möchte einen komplett fertigen Katalog für die Klassen 1 bis 10 erstellen. Das ist mein Ziel.

Von der Primarschule bis zum Studium scheitern viele, weil sie Mathematik nicht bestehen. Warum ist gerade Mathematik das Fach, das derart selektiert?
Man kann ohne Mathe gut durchs Leben kommen – solange man nicht Maschinenbau oder ähnliches studieren will. Ich glaube zudem, Mathematik hat einfach eine wahnsinnig schlechte Lobby. In Deutschland erzählen acht von zehn Promis öffentlich, dass sie schlecht in Mathe waren. Irgendwann ist es wohl schick geworden, zu sagen, dass man Mathe nicht kann.​

Sind die meisten Leute also gar nicht so schlecht in Mathematik, wie sie glauben?
Ich denke, die meisten sind nicht schlecht, aber Mathematik verzeiht keine Fehler. In Mathe gibt es nur richtig oder falsch. Das macht es für viele schwieriger.​

Wie steht es um das Vorurteil, dass Mädchen schlechter in Mathe sind als Jungs? Können Sie es mit Ihrer Erfahrung ein für alle Mal dementieren?
Absolut. Solche Unterschiede gibt es nicht. Tatsächlich sind Mädchen oft ordentlicher und fleissiger, was dazu führt, dass sie allein durch saubere Zahlenanordnungen weniger Fehler machen. Deshalb würde ich die Mädchen generell eher etwas weiter vorne sehen.

Kommerzielle Nachhilfeanbieter sind ein boomendes Geschäft. Sie verlangen nichts. Haben Sie Einnahmen durch Youtube-Werbung?
Ich habe alles abgeschaltet, was möglich ist. Auf Werbeunterbrechungen in den Videos verzichte ich bewusst, weil es den Lernprozess unterbrechen würde. Es war nie meine Absicht, Youtuber zu werden oder je davon zu leben. Es besteht aber die Möglichkeit, kleine Spenden abzugeben. Davon wird von den Zuschauerinnen und Zuschauern ab und zu Gebrauch gemacht.

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65 Kommentare
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Pointless Piraña
07.12.2024 23:29registriert Dezember 2019
Ein segensreiches halbes Jahr hatten wir im Gymi einen Mathelehrer, der die Materie so erklären konnte, dass ich nicht mit dem tiefen Gefühl der Frustration und Unzulänglichkeit den Unterricht besuchte. Jede Lektion bei ihm war eine Offenbarung und ich auf magische Weise plötzlich genügend.
Die Lehrer Schmidts dieser Welt sind leider die Ausnahme, die auf sie Regel verweist.
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Gael Gartner
08.12.2024 00:38registriert Januar 2023
1.) Das Video kann man pausieren und mehrmals schauen. 1:1 Betreuung, keine +20 Klassen.
2.) Es ist nicht 8.15 morgens.
3.) Intrinsische Motivationt: Man hat sich vorgenommen, etwas zu verstehen wegen der Prüfung morgen oder aus reinem Interesse.
4.) Die Videos dauern manchmal kaum 2, 3 Minuten. Die Lehrperson kann die ganze Energie in ein Kurzvideo stecken.
5.) Es kommt kein Schüler zu spät rein, niemand schwatzt, niemand geht aufs WC. usw.
6.) Weil er niemanden disziplinieren muss, ist sein Verhältnis zu den Lernenden neutral.
7.) Er kann gut erklären, wie hunderte LPs da draussen auch.
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Aare24
07.12.2024 23:53registriert August 2024
Mit 26 Kids in einer Klasse (Kanton Bern..) kann die Lehrperson nicht auf individuelle Fragen stehts eingehen und muss weiter gehen mit dem Schulstoff.. Die Assistenzlehrerperson war super und hatte Zeit für den Stoff noch einmal individuell zu erklären und wäre sehr gerne geblieben, aber fiel den Sparmassnahmen zum Opfer. Die Frage stellt sich für mich, ob da am Richtigen Ort gespart wird. Z. B. die Stadt Bern hat Geld, um Strassen gendern zu wollen.. Aber dann doch lieber nicht für die Bildung der Kinder.. Lehrer Schmidt ist super und hat uns schon oft weitergeholfen!
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