Herr Kessler, die Stadt Basel berechnet den Lärm neu, weil die moderne Musik mehr Bass hat ...
... modern? Nein, schon der Techno der 80er hatte viel Bass. Die tieferen Gründe für immer mehr Regeln liegen woanders – in der Anspruchsinflation unserer Wohlstandsgesellschaft. Wir wollen alles haben, jederzeit an jedem Ort, aber davon nicht gestört werden und auch keine Kompromisse mehr eingehen. Der Bass ist nicht die Wurzel des Problems, sondern ein Symptom.
Das ging jetzt etwas schnell. Sie begründen die neue Bass-Formel mit einem Gesellschaftswandel?
Ja. Gehen wir ein paar Schritte zurück. Vielen Regeln liegt ein Konflikt zwischen lebendiger Kulturstadt und Ruhebedürfnis der Anwohner zugrunde. Auf der einen Seite stehen Gartenkneipen, Nachtlokale oder eben die Clubs. Bass gehört zur Musik. Auf der anderen Seite stehen die Anwohner. Wenn sich in einer solchen Situation die Parteien für das Lösungssuchen nicht an einen Tisch setzen, braucht es schliesslich eine abstrakte Formel, von einer Behörde erlassen, die das Zusammenleben regelt. Würde sich die Zivilgesellschaft häufiger selber organisieren, bräuchte es weniger Reglemente.
Das ist doch utopisch.
Nein, es ist pragmatisch. Bei kleinräumigen Zwisten zuerst nach dem Staat zu rufen ist definitiv nicht sinnvoll. Auch urbane Zonen wie in Bern oder Spezialbewilligungen wie in Zürich sind nicht die Lösung, sondern Hilfskonstrukte. Forderungen danach haben etwas Spiessiges, schlussendlich muss man ja jeden Einzelfall mit den konkret betroffenen Menschen anschauen.
Spiessig?
Ja. Spiesser sind nicht nur Behörden und Anwohner, die den Lärm verbieten wollen, sondern auch diejenigen, die sich für progressiv halten, aber auch einen Gartenzwerg in sich haben und ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. Die Stadt ist ein vielfältiger, spannender Organismus, Dichte und Vielfalt gehören dazu und bringen Interessenkonflikte mit sich. Diese müssen nicht zuerst mit abstrakten Normen angegangen werden, sondern mit Vernunft und Anstand, mit dem Prinzip leben und leben lassen.
Sind wir denn nicht anständig?
Nein. Im mediterranisierten Nachtleben noch nicht ganz. Wir sind erst auf dem Weg vom grölenden alemannischen Waldmenschen zum kultivierten urbanen Lateiner.
Wie bitte?
Der alemannische Waldmensch besäuft sich im Wald, tobt sich aus, ungestört, unflätig, unbeachtet. Der urbane Lateiner hat keinen Wald. Sein Raum ist die dichte Stadt, wo er es lustig hat, wo er sich frei bewegt, wo er sich aber eben kultiviert bewegt. Wir entdecken jetzt die Stadt wieder und nutzen den öffentlichen Raum viel stärker, sind aber immer noch Waldmenschen. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir uns selbst stark regulieren.
Oje. Schiessen Sie los.
Es mangelt an Zivilcourage. Wir gehen zu wenig aufeinander zu und können Konflikte nicht mehr von Angesicht zu Angesicht aushandeln. Wir sind uns teilweise fremd geworden.
Das klingt ja schrecklich.
Ist es auch. Diese Entwicklung stellt schlussendlich den Erfolg der Schweiz als liberales Land infrage. Unser Wohlstand zehrt von freiwilligem Engagement, freien Gedanken und freien Entfaltungsmöglichkeiten. Diese werden durch die Bedürfnisexzesse und die daraus folgende Regulierung und Abstraktion verdrängt.
Da wären wir also bei ihrer Begründung. Schuld ist der Wohlstand?
Uns geht es ausgezeichnet. Besser als neunundneunzig Prozent auf dieser Welt. Alles funktioniert, wir haben Trinkwasser in den Seen, die Autos sind leise, das Leben ruhig. In diesem Wohlstand explodieren die Bedürfnisse. Wir wollen noch mehr haben und alles am selben Ort: Auf dem Land wollen wir saubere Landluft, aber keine Kuhglocken, in der Stadt wollen wir Lebendigkeit, aber wir wollen sie nicht hören. Wir können uns so viel Privatraum leisten wie noch nie. Kompromisse müssen wir so kaum mehr eingehen.
Alles asoziale Egoisten also.
Jede zweite Wohnung in den Städten wird noch von einem einzigen Menschen bewohnt, manche sind schon überfordert, wenn der Gast das Joghurt-Becherchen am falschen Ort hinstellt. Der Nachbar regt sich über den anderen auf, weil der auf dem Balkon raucht, notabene weil er drin nicht mehr darf, und zieht damit vors Mietgericht. Sie sehen: Die Entfremdung, der Mangel an direktem Austausch schlagen sich in der Behördenstatistik nieder.
Gibt es Hoffnung?
Natürlich. Ich bin Optimist.
Sicher?
Definitiv. Die Leute spüren, dass wir die Grenze des vernünftigen Regulierens erreicht haben. Wir müssen uns jetzt wieder vermehrt selber engagieren.
Wie?
Wenn wir Freiheit wollen, müssen wir Verantwortung übernehmen, für unser Handeln und unsere Mitmenschen. Ich muss bei meinen Nachbarn klopfen, mich vorstellen, meine Party ankündigen und sie einladen. Dann kennen sie mich, dann reklamieren sie nicht bei der Polizei, sondern bei mir, und dann feiern sie vielleicht ja auch mit.
Gibt's bei Ihnen auch Partys mit viel Bass?
Wir haben eine stark gelebte Nachbarschaft, da verträgt's locker Balkanpop und die Stones. Bass ist mir aber nicht mehr so wichtig. Ich höre im Alltag lieber Klassik.