Schweiz
Interview

Stadtentwickler Thomas Kessler über Basels strikte Lärmregeln: «Der Bass ist nicht die Wurzel des Problems, sondern ein Symptom»

Thomas Kessler.
Thomas Kessler.Bild: KEYSTONE
Interview

Stadtentwickler Thomas Kessler über Basels strikte Lärmregeln: «Der Bass ist nicht die Wurzel des Problems, sondern ein Symptom»

In Basel reglementiert die Stadt per Verordnung die Bässe aus der Partymusik weg. Der Stadtentwickler Thomas Kessler hält das für Unfug. Ein Gespräch über den alemannischen Waldmenschen, Spiessertum und Landluft.
14.05.2015, 12:3515.05.2015, 08:25
Daria Wild
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Herr Kessler, die Stadt Basel berechnet den Lärm neu, weil die moderne Musik mehr Bass hat ...
... modern? Nein, schon der Techno der 80er hatte viel Bass. Die tieferen Gründe für immer mehr Regeln liegen woanders – in der Anspruchsinflation unserer Wohlstandsgesellschaft. Wir wollen alles haben, jederzeit an jedem Ort, aber davon nicht gestört werden und auch keine Kompromisse mehr eingehen. Der Bass ist nicht die Wurzel des Problems, sondern ein Symptom.

Thomas Kessler 
Der 56-jährige Agronom und Intellektuelle war zwischen 1991 und 1998 Drogendelegierter und von 1998 bis 2008 war er Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt. Kessler verfolgte sowohl im Umgang mit Drogen als auch bei der Ausländerintegration stets eine möglichst liberale und verständnisvolle Linie, wo nötig aber auch eine harte. Seit 2008 ist er Kantons- und Stadtentwickler von Basel-Stadt und beschäftigt sich als solcher auch mit den Fragen des Zusammenlebens auf engem Raum. Die Hauptprobleme seien dabei die hohen Wohlstandsansprüche bei gleichzeitigem zivilisatorischem Rückstand: Beim alemannischen Waldmenschen fehlten kollektive Erinnerungen an den rücksichtsvollen Umgang in städtischer Dichte. Diese seien aber Voraussetzung für den sich durchsetzenden mediterranen Lebensstil. 

Das ging jetzt etwas schnell. Sie begründen die neue Bass-Formel mit einem Gesellschaftswandel?
Ja. Gehen wir ein paar Schritte zurück. Vielen Regeln liegt ein Konflikt zwischen lebendiger Kulturstadt und Ruhebedürfnis der Anwohner zugrunde. Auf der einen Seite stehen Gartenkneipen, Nachtlokale oder eben die Clubs. Bass gehört zur Musik. Auf der anderen Seite stehen die Anwohner. Wenn sich in einer solchen Situation die Parteien für das Lösungssuchen nicht an einen Tisch setzen, braucht es schliesslich eine abstrakte Formel, von einer Behörde erlassen, die das Zusammenleben regelt. Würde sich die Zivilgesellschaft häufiger selber organisieren, bräuchte es weniger Reglemente. 

«Spiesser sind nicht nur Behörden und Anwohner, die den Lärm verbieten wollen, sondern auch diejenigen, die sich für progressiv halten, aber einen Gartenzwerg in sich haben.»

Das ist doch utopisch.
Nein, es ist pragmatisch. Bei kleinräumigen Zwisten zuerst nach dem Staat zu rufen ist definitiv nicht sinnvoll. Auch urbane Zonen wie in Bern oder Spezialbewilligungen wie in Zürich sind nicht die Lösung, sondern Hilfskonstrukte. Forderungen danach haben etwas Spiessiges, schlussendlich muss man ja jeden Einzelfall mit den konkret betroffenen Menschen anschauen.

Spiessig?
Ja. Spiesser sind nicht nur Behörden und Anwohner, die den Lärm verbieten wollen, sondern auch diejenigen, die sich für progressiv halten, aber auch einen Gartenzwerg in sich haben und ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. Die Stadt ist ein vielfältiger, spannender Organismus, Dichte und Vielfalt gehören dazu und bringen Interessenkonflikte mit sich. Diese müssen nicht zuerst mit abstrakten Normen angegangen werden, sondern mit Vernunft und Anstand, mit dem Prinzip leben und leben lassen. 

Sind wir denn nicht anständig?
Nein. Im mediterranisierten Nachtleben noch nicht ganz. Wir sind erst auf dem Weg vom grölenden alemannischen Waldmenschen zum kultivierten urbanen Lateiner. 

Das dürfte er sein: der grölende alemannische Waldmensch.
Das dürfte er sein: der grölende alemannische Waldmensch.Bild: KEYSTONE

Wie bitte?
Der alemannische Waldmensch besäuft sich im Wald, tobt sich aus, ungestört, unflätig, unbeachtet. Der urbane Lateiner hat keinen Wald. Sein Raum ist die dichte Stadt, wo er es lustig hat, wo er sich frei bewegt, wo er sich aber eben kultiviert bewegt. Wir entdecken jetzt die Stadt wieder und nutzen den öffentlichen Raum viel stärker, sind aber immer noch Waldmenschen. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir uns selbst stark regulieren.

«Plötzlich sind wir nur schon überfordert, wenn der Gast das Joghurt-Becherchen am falschen Ort hinstellt.» 

Oje. Schiessen Sie los. 
Es mangelt an Zivilcourage. Wir gehen zu wenig aufeinander zu und können Konflikte nicht mehr von Angesicht zu Angesicht aushandeln. Wir sind uns teilweise fremd geworden. 

Das klingt ja schrecklich. 
Ist es auch. Diese Entwicklung stellt schlussendlich den Erfolg der Schweiz als liberales Land infrage. Unser Wohlstand zehrt von freiwilligem Engagement, freien Gedanken und freien Entfaltungsmöglichkeiten. Diese werden durch die Bedürfnisexzesse und die daraus folgende Regulierung und Abstraktion verdrängt. 

Da wären wir also bei ihrer Begründung. Schuld ist der Wohlstand?
Uns geht es ausgezeichnet. Besser als neunundneunzig Prozent auf dieser Welt. Alles funktioniert, wir haben Trinkwasser in den Seen, die Autos sind leise, das Leben ruhig. In diesem Wohlstand explodieren die Bedürfnisse. Wir wollen noch mehr haben und alles am selben Ort: Auf dem Land wollen wir saubere Landluft, aber keine Kuhglocken, in der Stadt wollen wir Lebendigkeit, aber wir wollen sie nicht hören. Wir können uns so viel Privatraum leisten wie noch nie. Kompromisse müssen wir so kaum mehr eingehen.  

Alles asoziale Egoisten also.
Jede zweite Wohnung in den Städten wird noch von einem einzigen Menschen bewohnt, manche sind schon überfordert, wenn der Gast das Joghurt-Becherchen am falschen Ort hinstellt. Der Nachbar regt sich über den anderen auf, weil der auf dem Balkon raucht, notabene weil er drin nicht mehr darf, und zieht damit vors Mietgericht. Sie sehen: Die Entfremdung, der Mangel an direktem Austausch schlagen sich in der Behördenstatistik nieder. 

Gibt es Hoffnung?
Natürlich. Ich bin Optimist.

«Die Leute spüren, dass wir die Grenze des vernünftigen Regulierens erreicht haben.»

Sicher?
Definitiv. Die Leute spüren, dass wir die Grenze des vernünftigen Regulierens erreicht haben. Wir müssen uns jetzt wieder vermehrt selber engagieren.  

Wie?
Wenn wir Freiheit wollen, müssen wir Verantwortung übernehmen, für unser Handeln und unsere Mitmenschen. Ich muss bei meinen Nachbarn klopfen, mich vorstellen, meine Party ankündigen und sie einladen. Dann kennen sie mich, dann reklamieren sie nicht bei der Polizei, sondern bei mir, und dann feiern sie vielleicht ja auch mit.  

Gibt's bei Ihnen auch Partys mit viel Bass?
Wir haben eine stark gelebte Nachbarschaft, da verträgt's locker Balkanpop und die Stones. Bass ist mir aber nicht mehr so wichtig. Ich höre im Alltag lieber Klassik.  

Der Bass muss weg – schlimm oder ok?
Bild
bild: facebook.com/beppiwachuf 
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9 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Angelo C.
14.05.2015 14:17registriert Oktober 2014
Zwar ein links-grüner Zeitgenosse, dieser Thomas Kessler, ist mir aber im Laufe der Jahre (mit Ausnahme gewisser Asylfantasien) recht gut eingefahren! Ein pragmatischer Typ, intellektuell und durchaus akzeptabel. Jedenfalls hat er in Basel einiges auf den Weg gebracht, auch solches, das national übernommen wurde. Seine Interview-Antworten gefallen mir mehrheitlich gut.
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