Die Vorwürfe, die Sie in Ihren Berichten erheben, sind happig. Was hat Sie im Zuge Ihrer Untersuchungen am meisten überrascht – oder vielleicht müsste man sagen: entsetzt?
Pascal Stirnimann: Entsetzt ist vielleicht ein starkes Wort. Aber natürlich hat mir die Dimension des mutmasslichen Betrugs zu denken gegeben. Es geht aktuell um 26 Fälle mit potenziell strafbaren Handlungen zum Nachteil der Ruag. Das ist eine hohe Zahl.
Im Zentrum steht ein ehemaliger Kadermitarbeiter der Ruag, der sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz arbeitete.
Ja. Wobei gesagt werden muss: Es gilt einerseits die Unschuldsvermutung, andererseits ist die Untersuchung noch nicht abgeschlossen.
Zwei Fallkomplexe waren bekannt. Dabei ging es sowohl um 96 Panzer in Italien als auch um Panzerteile in Deutschland. Nun sorgt ein dritter Fall für Aufsehen. Worum geht es?
Die Untersuchung konzentrierte sich auf Raupenfahrzeuge. Der angesprochene Fall dreht sich um Panzer-Ersatzteile: Ruag in der Schweiz kaufte diese für 4,5 Millionen aus den Niederlanden ein. Ein Teil von 1,5 Millionen blieb in der Schweiz, wobei auf diesen Artikeln ein Verlust von über 1 Million realisiert wurde. Ein wesentlicher zweiter Teil lieferte Ruag Schweiz für drei Millionen an Ruag Deutschland, welche die Ersatzteile dann an einen deutschen Geschäftspartner verkauft hat. Dort wurde vermutlich ein hoher Gewinn erzielt. Gemäss Nato-Bestandsliste hatten diese Teile nämlich einen Wert von 40 bis 50 Millionen. Es ist aber unklar, ob es zu einem Verkauf kam, aber der potenzielle Schaden für Ruag ist beachtlich.
Wie hoch ist der Schaden für Ruag insgesamt, den dieser Kadermitarbeiter verursachte?
Das lässt sich sehr schwer beziffern. Es geht hier auch um einen möglichen Reputationsschaden – der sich schwer bemessen lässt. Im Raum stehen aber auch Haftungsfragen, mögliche Rückforderungen, Aufarbeitungskosten und so weiter. Wir gehen — Stand heute – von einem Schaden im hohen zweistelligen Millionenbereich aus. Aber das ist lediglich eine erste Schätzung. Diese Zahl kann sich noch stark verändern.
Wie lange konnte dieser Mitarbeiter aktiv sein?
Im Zuge der Untersuchung werden Fälle behandelt, die in die Jahre 2014, 2015 zurückreichen. Wir reden also über einen Zeitraum von rund 10 Jahren. Und damit über einen Zeitraum, in welchem sich die Ruag stark verändert hat. Das erklärt, warum die Untersuchung so komplex ist.
Hätte niemand diesen Mitarbeiter stoppen können?
Es gab 2019 einen Whistleblower, der detaillierte Informationen über diese potenziellen Betrugsfälle an den Ruag-Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung weiterleitete. Aus heutiger Sicht können wir sagen: Diese Meldung war inhaltlich gut.
Und was unternahm die Ruag-Leitung?
Leider hat es Ruag versäumt, diesen Hinweisen nachzugehen. Intern wurde die Sache kurz und unseriös abgeklärt: Das verdächtigte Kadermitglied führte diese Untersuchung durch. Deren Ergebnis teilte der Ruag-Verwaltungsrat auch dem Generalsekretariat des Verteidigungsdepartements als Eignerin der Ruag mit.
Viola Amherd oder zumindest ihr Generalsekretariat hätten also wissen können, was in der Ruag vor sich geht?
Mit solchen Feststellungen muss man aufpassen. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: Dieser Hinweis hatte Substanz. Aber mit derartigen Meldungen ist es immer schwierig. Wir als Finanzkontrolle erhalten jährlich mehr als 400 Whistleblowing-Hinweise. Manchmal ist es schwierig, hier die Spreu vom Weizen zu trennen. Was wir aber kritisieren: Man hätte dem Hinweis seriöser nachgehen müssen. Dann hätte man vermutlich vieles verhindern können.
Die Ruag erlebte im vergangenen Jahrzehnt grosse Umwälzungen. Das internationale und nationale Rüstungsgeschäft wurde entflochten und in zwei separate Unternehmen geteilt. Inwiefern haben die Strukturen kriminelle Machenschaften begünstigt?
Wir haben diese Umstrukturierungen konkret nicht untersucht. Aber klar: Phasen des Wandels sind für jedes Unternehmen schwierig. Da braucht es stabile Prozesse, eine stabile Leitung. Beides war nicht der Fall. Die Ruag wurde in vier Jahren geführt von fünf verschiedenen CEOs und drei verschiedenen CFOs. Compliance-Regeln gab es zwar, sie wurden aber nicht durchgesetzt. Zudem war das Vertrauensverhältnis zwischen Geschäftsleitung und Verwaltungsrat belastet. Es herrschte keine Kultur der Regeltreue. Vielmehr genossen Mitarbeitende, die etwa für viel Umsatz sorgten, einen gewissen Schutzstatus. Das kam in den Gesprächen heraus.
Hätte der Eigner – konkret das Verteidigungsdepartement von Viola Amherd – genauer hinschauen müssen?
Wichtig ist zunächst die Verantwortungskette. Primär verantwortlich für das Einhalten der Gesetze sind Geschäftsleitung und Verwaltungsrat. Dort gab es Versagen. Ein wichtiges Stichwort ist Funktionstrennung. Es gab Personen, die einen Rüstungsdeal von A bis Z abwickeln konnten: Einkauf, Bewertung und Verkauf – mit möglichen Interessenkonflikten. Und ja, auch der Eigner hat seine Pflichten nicht vollumfänglich wahrgenommen. Er hätte kritischer und in Gesprächen verbindlicher sein müssen, beispielsweise indem Beschlüsse protokolliert werden.
Unprotokollierte Beschlüsse: Also war der Austausch eher informell?
Was alles informell beschlossen wurde, wissen wir nicht, weil es nicht dokumentiert wurde. Wir haben aber festgestellt, dass Themen ausserhalb ordentlicher Eignergespräche geregelt wurden, ohne Protokoll. Da muss man nachbessern.
Ein Bericht behandelt Konsignationslager. Worum handelt es sich dabei?
Das sind Lager im Eigentum der Armee, die vertraglich festgehalten, aber von der Ruag betreut werden. Die Ruag verwaltet das Material, ist aber der Armee Rechenschaft schuldig. Das Problem ist die Kontrolle: Niemand wusste genau Bescheid über die effektiven Bestände oder Bewegungen in diesen Lagern. Wir orten ein Betrugsrisiko und einen Schaden für die Armee. Es ist möglich, dass Gegenstände entnommen und verkauft wurden, möglicherweise ohne Wissen der Ruag oder der Armee.
Gibt es Hinweise, dass das passiert?
Ruag hat zum Beispiel rund 1300 Inventurdifferenzen verbucht – ohne dass je eine vollständige Inventur der Lager stattgefunden hätte. Das wirft zumindest Fragen auf und muss nun weiter abgeklärt werden.
Sie zeichnen ein desolates Bild des Schweizer Rüstungswesens. Welche Schritte empfiehlt nun die Finanzkontrolle?
Das ist Ihre Feststellung. Wir verlangen aber, dass Ruag auf verschiedenen Ebenen griffige Massnahmen ergreift, um die Compliance-Regeln durchzusetzen. Wir fordern zum Beispiel Kontinuität auf oberster Leitungsebene und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Ich glaub, ich spinne.
Sind die bei der Ruag von allen guten Geistern verlassen. Was für ein Sauladen.
Aber vielleicht ist es ja gerade die Art wie Chefs ausgewählt werden, die immer wieder zu solchen Missständen führt.
Es kommt mir das Wort Amateurliga in den Sinn, aber das ist eine Untertreibung.