Der Hauptsitz der Suizidhilfeorganisation Exit Deutsche Schweiz ist schwierig zu finden. Er befindet sich auf dem Zürichberg in einer Seitenstrasse zwischen noblen Wohnhäusern. Ein Firmenschild sucht man vergebens. Es ist eine Vorsichtsmassnahme. Exit hat zwar mehr Mitglieder als jede Partei der Schweiz, aber eine fundamentale Gegnerschaft ist geblieben.
Ob der versteckte Geschäftssitz noch zeitgemäss ist, wird eine der kleineren Fragen sein, die Exit-Präsidentin Marion Schafroth in ihrer Amtszeit angehen wird. Die erste Debatte, die sie anstossen will, betrifft den Altersfreitod. Am Samstag lädt sie zu einer Tagung zum Thema, die auf grosses Interesse stösst. Sie ist ausgebucht.
Der «Altersfreitod» ist ein umstrittenes Konzept. Gottfried Locher, der Präsident des reformierten Kirchenbundes, spricht von einer «menschenverachtenden Idee». Können Sie das nachvollziehen?
Marion Schafroth: Das Problem ist, dass viele Leute nicht wissen, was wir mit dem Altersfreitod meinen.
Sagen Sie es uns.
Es geht um einen betagten Menschen, der an einer Summe von Beschwerden leidet, die seine Lebensqualität so beeinträchtigen, dass sie nicht mehr stimmt für ihn. Die Ursachen können vielfältig sein, zum Beispiel extreme Schwerhörigkeit, Sehverminderung oder medizinisch nicht fassbare Schwindelanfälle. Die Voraussetzung für einen Altersfreitod ist also nicht zwingend eine klare medizinische Diagnose oder eine tödliche Krankheit. Auch starke altersbedingte Funktionsminderungen können zu einem unerträglichen Leiden führen. Sie müssen im Rahmen unserer Abklärungen von einem Arzt bestätigt werden.
Die Schwierigkeit ist: Man kann nicht nach einer klaren Methode bestimmen, wer sich das Leben nehmen darf.
Ja, das ist der Knackpunkt. Am wichtigsten ist der Leidenszustand, der immer subjektiv ist. Jede Person definiert selber, was für sie tragbar ist und was nicht.
Der Begriff des Altersfreitods ist problematisch, weil er suggeriert, dass ein Mensch wegen seines Alters nicht mehr leben will. Und: Der Suizid wird dabei glorifiziert als Akt der Freiheit.
Sie haben Recht: Es ist ein ungeschickter Begriff, weil er erklärungsbedürftig ist. Wir haben deshalb lange darüber diskutiert, ob wir den Begriff verwenden wollen. Die korrekte Bezeichnung wäre: Assistierter Suizid bei betagten Menschen. Weil der Begriff Altersfreitod inzwischen geläufig ist, haben wir entschieden, ihn so stehen zu lassen.
Manchmal muss man auch geläufige Begriffe ändern. Der Begriff Selbstmord ist auch geläufig, aber weil er den Suizid mit einer justiziablen Tat in Verbindung bringt, verwendet man ihn heute nur noch mit Zurückhaltung.
Zum Glück verändert sich die Sprache. Ich denke nicht, dass man in zehn Jahren noch von Freitod sprechen wird.
Und von der Freitod-Organisation?
Ich bin keine Prophetin.
Aber die Präsidentin der grössten Freitod-Organisation der Schweiz.
Erst seit ein paar Monaten. Aber für mich ist klar, dass sich unser Verein weiterentwickeln muss, auch in der Wortwahl. Das braucht Zeit.
Eine Etablierung des Altersfreitods ist umstritten, weil Senioren Exit wählen könnten um ihren Nachkommen nicht zur Last zu fallen.
Das ist die grosse Angst unserer Gegner. Aber die Realität, die wir erleben, ist eine andere. Die betagten Menschen müssen kämpfen und viel Überzeugungsarbeit leisten, um sterben zu dürfen. Gerade bei ihren Angehörigen. Wir stellen fest: Der Mensch will grundsätzlich leben. Der Überlebenstrieb ist sehr gross. Wenn ein betagter Mensch wegen der Summe seiner Beschwerden nicht mehr leben will, ist das ein autonomer Entscheid eines denkenden und fühlenden Menschen. Den gilt es zu respektieren.
In vielen Fällen könnte eine aber versteckte Altersdepression der wahre Grund sein.
Viele Leute meinen, wenn eine Person alt ist und an Suizid denkt, muss sie depressiv sein. Natürlich gibt es altersdepressive Menschen. Selbstverständlich begleiten wir niemanden in den Tod, der wenige Wochen nach dem Tod des Partners in einer Depression steckt. Viele Leute können aber gut erklären, weshalb sie über lange Zeit zu Tode betrübt sind: Weil sie hilfsbedürftig sind, ins Altersheim müssen, viele Gebrechen haben, ihr Hobby und ihre Kontakte nicht mehr pflegen könnten. Viele Gegner und Laien sagen, das sei eine Depression, die man einfach behandeln könne. Doch das stimmt nicht, weil man die Ursache, die fortschreitenden Altersgebrechen, nicht behandeln kann.
Was muss sich aus Ihrer Sicht in der Gesellschaft ändern?
Der Altersfreitod darf nicht länger tabuisiert werden. Das Thema ist aktuell, weil es in der Schweiz immer mehr betagte Menschen gibt. Es hat ein Sinneswandel stattgefunden. Die heutigen Betagten wollen ihr Leben selbstbestimmter führen als vergangene Generationen. Wenn sie mit ihrem Hausarzt über einen assistierten Suizid sprechen wollen, blockt dieser aber häufig ab und sagt: «Ich darf das nicht.» Die Ärzteschaft ist oftmals zu wenig informiert. Viele Mediziner wissen nicht, dass der Altersfreitod in der Schweiz legal ist. Sie meinen, ein assistierter Suizid sei nur bei einer tödlichen Krankheit möglich. Aber das stimmt nicht.
Wo sehen Sie die Ursache für das Missverständnis?
In der Aus- und Weiterbildung lernt ein Arzt in der Regel nicht, wie er mit dem Sterbewunsch eines Patienten umzugehen hat. Er lernt nur, wie er Leben verlängert. Eine Mehrheit unserer Gesellschaft findet es aber richtig, dass der assistierte Suizid in der Schweiz erlaubt ist. Der Arzt ist der Gatekeeper für das dazu benötigte, rezeptpflichtige Medikament. Deshalb sollte er das entsprechende Wissen haben. Wir wollen das Bewusstsein fördern, dass der Altersfreitod juristisch und ethisch in Ordnung ist, wenn er selbstbestimmt und freiwillig passiert.
Diese Diskussion führen Sie nicht ganz freiwillig. Es gibt bei Exit eine interne Protestbewegung, die noch viel weiter gehen und alten Menschen das Sterbemittel rezeptfrei zur Verfügung stellen möchte.
Wir hatten gerade eine Vorstandssitzung, an der ich die neue Mitgliederzahl erfahren habe: Wir haben jetzt fast 130'000 Mitglieder. Diese decken ein breites Meinungsspektrum ab. Eine rezeptfreie Abgabe ist eine Extremposition einer Minderheit, die im Moment nicht realisierbar ist. Aber wir haben definiert, dass wir sie als Fernziel aufnehmen.
Was ist Ihre Vision?
Suizidhilfe sollte zu einer selbstverständlichen Aufgabe eines Arztes werden und im Gesundheitswesen so verankert sein, dass es letztlich gar keine Sterbehilfeorganisationen mehr braucht. So wie es Hebammen gibt, die am Lebensanfang betreuen, sollte es ganz selbstverständlich auch Sterbehelfer geben, die dies am Lebensende tun.
Ein Spitex-Mitarbeiter sollte also zum Beispiel das Gift nach Hause bringen?
Menschen, die zu Hause betreut werden, sollten das Sterbemittel auch hier erhalten. Für andere wäre es die Palliativ-Krankenschwester oder Vertreter anderer medizinischer Berufsgruppen.
Warum machen Sie teure PR-Kampagnen, wenn Sie eigentlich verschwinden wollen?
Zur Zeit braucht es uns noch. Wer einen gewaltfreien und sicheren Suizid begehen will, kann sich das Sterbemittel ohne uns kaum auf legale Weise beschaffen.
Aber wieso machen Sie dafür Werbung? Sie könnte Ihre Arbeit einfach im Stillen machen.
Nein. Wir müssen gross und stark sein. Denn die knapp 130'000 Mitglieder finanzieren zum Beispiel unsere Geschäftsstelle mit ihren Angestellten. Zudem verleihen sie unseren Anliegen Schlagkraft. Zu guter Letzt wollen wir mit unseren Öffentlichkeitskampagnen weiterhin das Verständnis für diejenigen leidenden Mitglieder fördern, die tatsächlich die Hilfe von Exit in Anspruch nehmen müssen.