Der Januar ist der Monat des Verzichtens. Viele Menschen starten mit einer Diät ins neue Jahr. Zudem leiden viele Menschen unter Unverträglichkeiten. Leben wir hier im Globalen Norden im Allgemeinen in einer essgestörten Gesellschaft?
Gabriella Milos: Schwierige Frage. Tatsächlich leben wir in einer schweren Zeit, was Ernährung anbelangt. Keiner Generation stand je so viel Essen zur Verfügung. Wenn wir heute einen Lebensmittelladen betreten, sehen wir mehr Lebensmittel, als früher ein Mensch in seinem ganzen Leben zu Gesicht bekam. An jeder Ecke wird uns etwas zu Essen angeboten. Selbstregulierung ist gefragt. Das fällt vielen Menschen schwer. Gleichzeitig wird uns ständig vorgegaukelt, was denn nun gesund sei – und was nicht. Essen bedeutet heute für viele nicht nur Genuss, sondern auch Stress.
Haben sie einen Tipp, wie es mit der Selbstregulierung klappt?
Die goldene Regel lautet: keine Mahlzeiten auslassen.
Viele Diäten gelten oft als Auslöser von Essstörungen. Kann eine Diät tatsächlich zu einem Essproblem führen?
Häufig geht einer Essstörung eine Diät voraus. Diäten bringen das Hunger- und Sättigungsgefühl komplett durcheinander. Dies ebnet den Weg in eine Essstörung wie Bulimie oder eine Binge-Eating-Störung. Denn durch lange Fastenperioden kann es zu Heisshungerattacken mit Essanfällen kommen. Dies wiederum führt zu Frust und Verzweiflung. Und Essen ist wie gesagt überall verfügbar. So kann man schnell in einen Teufelskreis geraten.
Kann eine Diät auch das Gegenteil auslösen – sprich, dass man gar keinen Hunger mehr spürt und immer weniger Nahrung zu sich nimmt?
Ja, auch Anorexia nervosa (Magersucht) beginnt oft durch eine Diät. Die Betroffene versuchten, mit exzessivem Sport und kontrolliertem Essen Gewicht zu verlieren. Komplimente und Anerkennung kann die Betroffenen anspornen, immer weniger zu essen und weiter an Gewicht zu verlieren. Bei länger andauernder Anorexie kann dann auch das Hungergefühl nachlassen, damit wird das wieder ausgewogene, regelmässige Essen schwierig.
Können die verschiedenen Krankheitsbilder auch gleichzeitig oder nacheinander auftreten?
Ja, es ist möglich, dass Menschen mit einer Magersucht auch unter Essattacken und/oder Erbrechen leiden. Es ist auch möglich, dass sich die Symptome einer Essstörung (restriktives Essen, Essattacken, Erbrechen) ändern im Laufe der Erkrankung.
Gibt es Personengruppen, die eher dazu neigen, durch Diäten in eine Essstörung abzurutschen?
Vor allem Kinder und Jugendliche zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr sind stark gefährdet. Essstörungen beginnen oft in dieser Altersspanne und betreffen vor allem Mädchen. Die Altersgrenze verschiebt sich allerdings zunehmend weiter nach unten.
Wie kommt das?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einen Einfluss haben vor allem soziale Medien. Kinder und Jugendliche vergleichen sich heutzutage nicht nur mit den Schulkameradinnen und Schulkameraden, sondern mit der ganzen Welt.
Einer Scheinwelt ...
Exakt. Gerade unrealistische Körperinszenierungen, die hauptsächlich über die sozialen Medien vermittelt werden, bergen oft ein Risiko, dass junge Erwachsene sich unwohl in ihrem Körper fühlen. Die Konfrontation mit Körperbildern fernab der Realität beginnt aber bereits vor der Primarschule. Die Puppen, die Vorbilder der Kinder, mit ihren grossen Köpfen und viel zu dünnen Körpern, können dazu beitragen, dass Kinder ein unrealistischeres Körperbild entwickeln. Auch Erwachsene sind in dieser Hinsicht keine guten Vorbilder.
Warum?
Erwachsene sind oftmals nicht zufrieden mit ihrem Aussehen und vergleichen sich in den sozialen Medien mit anderen Menschen. Dies kann abfärben.
Was geht in Menschen vor, die bereits unter einer Essstörung leiden und vermehrt mit den Themen Diäten, Intervallfasten oder Saftkuren konfrontiert werden?
Die Konfrontation mit solchen Themen setzt Menschen, die zu Essstörungen neigen, stark unter Druck. Man muss bedenken, dass Menschen mit einer Essstörung in einem Gedankenkarussell gefangen sind, das sich ständig ums Essen oder eben Nichtessen dreht. Wenn sich diese Menschen dann noch vorschreiben, wann sie etwas essen dürfen oder auf Mahlzeiten verzichten, dann kann sich das Krankheitsbild verschlimmern.
Wirkt sich das je nach Krankheitsbild anders aus?
Ja. Menschen mit Anorexie (Magersucht) fühlen sich durch Diäten bestätigt. Sie reden sich ein, dass es okay ist, noch weniger oder kaum etwas zu essen. Bei Menschen, die unter Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung leiden, können Diäten dazu führen, dass Ess- und/oder Brechanfälle sich häufen. Das hat einen simplen Grund: Heisshunger führt oftmals zu unkontrollierbaren Essanfällen, vor allem bei Menschen, deren Hunger- und Sättigungsgefühl nicht sattelfest ist.
Verzeichnen Sie im Diät-Monat Januar einen Anstieg an Therapieeinweisungen?
Grundsätzlich tragen sich im Januar mehr Menschen für eine Therapie ein als im Dezember. Das hängt aber wohl damit zusammen, dass man lieber erst im neuen Jahr eine Therapie starten will. Dies, obwohl der Dezember Menschen mit einem Essproblem stark zusetzt.
Weil das Thema Essen in dieser Zeit im Vordergrund steht?
Richtig. Doch nicht nur. Besonders junge Menschen haben dann Weihnachtsferien. Geregelte Tagesabläufe fallen weg. So kann der Essensrhythmus aus dem Gleichgewicht geraten. Hinzu kommt der Kontakt mit der Familie. Man tauscht Komplimente aus. Banale Komplimente wie du «Oh, siehst gut aus» können missinterpretiert werden. Jemand mit Magersucht kann dies beispielsweise so auffassen: «Ich habe zugenommen, ich bin dick geworden, alle sehen es.» Laien sind sich dessen oftmals nicht bewusst, dass allerlei Äusserungen über den Körper und das Aussehen Frust und Unzufriedenheit auslösen. Dazu muss man sagen, dass die Festtage für viele emotional belastend sind: Die Tatsache, dass während diesen Tagen sehr viele Nahrungsmittel herumliegen, vereinfacht das Leben von Menschen mit Essproblemen nicht.
Mal abgesehen von den Festtagen. Verstärken sich die Krankheitsbilder nicht eher im Sommer, wenn man sich nicht unter dicker Kleidung verstecken kann?
Das ist sehr individuell. Die Krankheitsbilder unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Es gibt Untergewichtige, die sich zelebrieren und es gibt solche, die sich drei Pullis überstülpen, weil sie sich in ihrem Körper so unwohl fühlen. Die Wahrnehmung kann stark variieren. Es gibt auch Menschen, die nur gewisse Körperteile von sich nicht akzeptieren.
Bemerkt man denn immer selbst, dass man unter einem gestörten Essverhalten leidet?
Menschen, die unter Essanfällen und oder Bulimie leiden, bemerken meist selbst, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Anders ist es bei der Anorexie, die wird meistens von Menschen aus dem näheren Umfeld festgestellt. Bei allen Krankheitsbildern gilt: nicht wegschauen! Man soll taktvoll die Situation ansprechen. Essstörungen sind meistens keine Phasen, die sich von selbst wieder legen. Für Menschen mit einer Essstörung mag eine Konfrontation zwar unangenehm sein, doch dies kann ein wichtiger Anstoss sein. Je früher man eine Essstörung behandelt, umso besser.
Zum Glück esse ich sehr gerne, man muss aber tatsächlich lernen sich wieder ausgewogen zu ernähren. Das Umfeld ist auch nicht unbedingt hilfreich, z. B. mit Kommentaren zu grösseren Portionen, die man aber braucht, wenn man viel Sport treibt.