Sie ist die Frau der Stunde, stand bei den US Open im Herbst im Halbfinal und gewann zum Abschluss der Saison den Final der acht Jahresbesten in Fort Worth. Die inzwischen 26-jährige Caroline Garcia ist zurück an der Weltspitze, in die sie vor gut sechs Jahren erstmals vorgestossen war.
Halten konnte sich die Französin dort nicht lange. Nun gewährte Garcia in der französischen Sportzeitung «L'Equipe» einen tiefen Einblick in ihr Innenleben und erzählte, wie sie an der Erwartungshaltung, am Druck und auch der Einsamkeit, die das Leben als Tennisnomadin mit sich bringt.
Als die Resultate ausblieben, geriet Caroline Garcia in einen Teufelskreis und entwickelte eine Essstörung. Der Stress, auf dem Platz nicht mehr das hinzubekommen, was man wolle, nicht mehr zu gewinnen, körperlich zu leiden. «Ich fühlte mich leer, so traurig, dass ich mich anderweitig erfüllen musste.» Das Essen habe sie für einige Minuten beruhigt. Natürlich wisse jeder, dass das nicht helfe, «aber ich ass gegen die innere Leere und die Traurigkeit. Ich habe Zuflucht im Essen gesucht. Es war unkontrollierbar.» Vor allem auch deshalb, weil man im Tennis viel Zeit alleine verbringe.
Das Jahr 2022 hatte Caroline Garcia als Nummer 76 der Welt begonnen und wegen einer chronischen Fussverletzung oft mit Schmerzen gespielt. «Ich hatte schlaflose Nächte, Fressattacken, während der ich exzessiv alles in mich hineingestopft habe, fühlte mich danach schuldig und habe erbrochen», beschreibt Garcia. Die Diagnose: Ess-Brechsucht. Bulimie.
Im März ging nichts mehr, die Schmerzen hatten Überhand genommen. Sie pausierte zwei Monate, liess sich operieren und musste wieder lernen, zu gehen. «Ich litt psychisch und körperlich und weinte oft», sagte Garcia.
Erst in der Retrospektive erwies sich die Zwangspause als Glücksfall. «Ich öffnete mich gegenüber meiner Familie und meinen Freunden und bekam die Hilfe, die ich brauchte.» Sie habe gelernt, ihre Fehler zu akzeptieren und dass sie nicht alles kontrollieren könne. «Und dass ich auf mich, meine Instinkte und meinen Körper vertrauen kann. Dass ich von Zeit zu Zeit eine Pizza essen kann, ohne am nächsten Tag schlechter zu spielen.»
Die Fixierung auf den Körper und seine Leistungsfähigkeit, der immense Druck, den sich Sportlerinnen einerseits selber auferlegen, aber auch die Öffentlichkeit, macht sie besonders anfällig, Essstörungen zu entwickeln.
Im Frühling 2022 hatte sich die Schweizer Olympia-Biathletin Lena Häcki in dieser Zeitung zu ihrer Krankheit bekannt und gesagt: «Ich möchte betonen, dass im Leistungssport viel öfters Essstörungen auftreten, als das alle denken. Viele Athletinnen – und auch Athleten – haben kein gesundes Verhältnis zum Essen. Ich hoffe, dass wir im Sport irgendwann zum Punkt gelangen, wo man als Trainer oder Betreuer nicht als erste Möglichkeit zur Leistungssteigerung die Aufforderung an junge Menschen macht, Gewicht zu verlieren oder zuzunehmen. Das kann schreckliche Folgen haben.»
Caroline Garcia sagt, es gebe noch immer Tage, an denen sie mit Essen einen inneren Widerspruch aufzulösen versuche und Trost zu finden hofft. Sie sei hart gegenüber sich selbst, gehöre zu dem Menschen, die sich aufs Gramm genau wiegen, doch unerbittlich sei sie nicht mehr. Sie sagt: «Ich erlaube mir heute ab und zu ein Dessert. Und wenn ich jetzt zwei Tage lang Lust auf Pizza habe, esse ich Pizza, ohne schlechtes Gewissen.»
Bei den am Montag beginnenden Australian Open gehört Caroline Garcia zum engsten Kreis der Favoritinnen. Mit ihrem öffentlichen Bekenntnis trägt sie vielleicht auch dazu bei, den Leistungssport und seine Auswüchse etwas weniger toxisch zu machen. Für sich und viele andere Betroffene. (aargauerzeitung.ch)