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Was bisher geschah:
Am 4. Januar 2010 rief Johannes Peeters die Urner Polizei an: Ignaz Walker habe soeben vor dessen Cabaret in Erstfeld auf ihn geschossen. Der Holländer hatte zum Tatzeitpunkt 2,58 Promille im Blut. Fünf Monate später wurde Peeters in einen Drogendeal in Altdorf verwickelt und musste sich wegen Halluzinationen behandeln lassen.
Ein Grund, an der Glaubwürdigkeit des Holländers zu zweifeln? Nicht für die Urner Richter. Im Gegenteil: Sie vertrauen auf die Aussagen von Peeters und sprechen Ignaz Walker 2012 und 2013 schuldig, in besagter Januarnacht auf den Gast aus Holland geschossen zu haben.
Walker hingegen beteuert bis heute, er habe damals in Erstfeld nicht geschossen. Mehr noch: Walker erzählt, dass Peeters ihn ein paar Tage später aufgesucht habe, um sich für die falsche Anschuldigung zu entschuldigen. Der Holländer habe ihm erklärt, er sei bei seiner Aussage von der Polizei unter Druck gesetzt worden.
Walkers Verteidiger Linus Jaeggi verlangte mehrmals, dass das Gericht den Holländer noch einmal befragen sollte. Ohne Erfolg.
Im Oktober 2012 wurde Peeters zwar vom Landgericht zur Verhandlung vorgeladen, erschienen ist er aber nicht. Die Urner Staatsanwaltschaft liess ausrichten, Peeters sei an der von ihm gemeldeten Adresse nicht erreichbar. Hinweisen, wonach sich der Holländer womöglich in Frankreich in Haft befindet, wurden nicht nachgegangen.
Jaeggi jedoch liess nicht locker: Er verlangte auch vor Obergericht im August 2013, den Holländer als Zeugen zu befragen. Diesmal wollte das Gericht aber gar nicht erst darauf eingehen und wies den Antrag zurück. Auch hier mit der Begründung der Staatsanwaltschaft, man wisse nicht, wo sich Peeters aufhalte.
Im Dezember 2014 hielt das Bundesgericht schliesslich fest: Ein Hauptbelastungszeuge, der nie vor Gericht befragt wurde – das geht nicht. Das Obergericht müsse Peeters zur Berufungsverhandlung vorladen und dafür alles mögliche unternehmen, um dessen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.
Doch auch der dritte Anlauf scheiterte: Zu Beginn der Berufungsverhandlung vor Obergericht vom vergangenen Montag, 19. Oktober, liess Obergerichts-Vizepräsident Thomas Dillier ausrichten: Peeters sei nicht da, er konnte nicht ausfindig gemacht werden.
Recherchen der «Rundschau» zeigen nun: Peeters befand sich seit August 2012 in Untersuchungshaft in Nordfrankreich. Dies wegen des Verdachts, zwischen 2009 und 2012 regelmässig Amphetamine, Ecstasy, Kokain und Cannabis von Holland nach Frankreich, Deutschland und die Schweiz geliefert zu haben. Im Juli 2015 wurde Peeters wegen der zahlreichen Drogendelikten zu drei Jahren Freiheitsstrafe und einer Busse von 3000 Euro verurteilt. Das französische Nachrichtenportal «La Voix Du Nord» berichtete darüber.
Da sich während den Untersuchungen gegen den Holländer herausgestellt hatte, dass er die Drogen auch in den Kanton Uri lieferte, stellten die französischen Behörden der Urner Staatsanwaltschaft im Februar 2013 ein Rechtshilfegesuch. Spätestens von diesem Zeitpunkt an, also noch vor dem Prozess vor Obergericht im August 2013, wusste die Urner Staatsanwaltschaft sehr wohl, wo sich Peeters aufhält.
Gemäss Mitteilung der «Rundschau» bestätigt dies Folco Galli vom Bundesamt für Justiz gegenüber der Sendung: «Anfang Juli entschied die Staatsanwaltschaft Uri, welche Dokumente und Beweismittel an die französischen Ermittler herausgegeben werden. Im September 2013 erfolgte die Herausgabe an die Behörden von Douai.»
Dass der Holländer mit Drogen zu tun haben könnte, ist indes nicht neu. Jaeggi mutmasste dies bereits vor dem Landgericht im Oktober 2012. Vielleicht, hielt der Verteidiger damals fest, sei die Täterschaft nicht bei Walker, sondern in der Drogenszene zu suchen.
Von der Urner Staatsanwaltschaft erntete Jaeggi dafür nur Spott und Hohn. Bei der Theorie eines Drogenrings rund um Peeters handle sich um «wilde Spekulationen und Fantasiegeschichten der Verteidigung», sagte Oberstaatsanwalt Bruno Ulmi vor Obergericht im August 2013 – damals bereits im vollen Wissen darüber, dass Johannes P. sehr wohl mit Drogen zu tun hat. Ulmi behauptete stattdessen weiter, die Staatsanwaltschaft wisse nicht, wo sich Peeters gegenwärtig aufhalte.
Damit entlarvt die «Rundschau» die brandschwarzen Lügen des Oberstaatsanwalts Ulmi im Verfahren vor Obergericht im August 2013. Und bringt damit ein weiteres Kapitel eines ausgewachsenen Justizskandals ans Tageslicht.
Christof Riedo, Professor für Strafprozessrecht, ist überzeugt, es wäre ganz einfach gewesen, Kronzeuge Peeters im französischen Gefängnis zu finden und 2013 zum Prozess vors Urner Obergericht zu bringen. Gemäss Vorschau zur Sendung spricht Riedo in der «Rundschau» von einem «groben Verstoss gegen prozessuale Grundsätze», begangen durch die Staatsanwaltschaft Uri.
Für Riedo hat das Verhalten der Urner Staatsanwaltschaft Folgen für den Prozess: Weil dem Obergericht die Kenntnisse zu Peeters Strafakten aus Frankreich und damit sein Aufenthaltsort verschwiegen wurden, vereitelte die Staatsanwaltschaft letztlich bewusst eine nochmalige Befragung des Hauptbelastungszeugen. Riedo ist deshalb äusserst skeptisch, ob das Gericht die ursprünglichen Aussagen von Peeters nun noch verwerten kann, wie die «Rundschau» mitteilt.
Jaeggi zeigt sich von den neuen Recherche-Ergebnissen der «Rundschau» geschockt: «Die Staatsanwaltschaft hat das Gericht und die Verteidigung damals brandschwarz angelogen», wird er in der Mitteilung des SRF zitiert. «Da stellt sich die Frage, ob nicht strafbare Handlungen im Sinne von Urkundendelikten oder Amtsmissbrauch seitens der Staatsanwaltschaft begangen worden sind.» Eine Strafanzeige dürfte sich nicht nur gegen Oberstaatsanwalt Ulmi richten, sondern auch gegen dessen Nachfolger, den jetzigen Oberstaatsanwalt Thomas Imholz. Denn dieser verschweigt dem Verteidiger von Walker und auch dem Obergericht die Kenntnisse zum Hauptbelastungszeugen Peeters bis heute.
Bruno Ulmi hatte per 31. Mai 2014 seine Stelle als Oberstaatsanwalt in Uri gekündigt. Dies obwohl sein grösster Fall – Ignaz Walker – damals noch nicht abgeschlossen war. Der Abgang gab damals Anlass zu Spekulationen: Rettete sich der Oberstaatsanwalt vom sinkenden Schiff? Zu den «Rundschau»-Recherchen will Ulmi gegenüber der Sendung keine Stellung nehmen; er verweist auf seinen Nachfolger, Thomas Imholz. Doch auch dieser will die Fragen nicht beantworten und teilt gemäss Mitteilung gegenüber der «Rundschau» mit: «Die Staatsanwaltschaft Uri als Verfahrensbeteiligte wird zu einem laufenden Verfahren keine Stellung nehmen.»
Wieso wollte und will die Urner Staatsanwaltschaft partout verhindern, dass Peeters vor Gericht geladen wird? Eine mögliche Antwort liegt ebenfalls seit Jahren im Raum. Walker hatte nämlich bereits 2010 ausgesagt, dass der Holländer ihn nach dem Schuss auf ihn besucht und sich entschuldigt haben soll für seine Falschaussage; er sei von der Polizei gedrängt worden, Walker zu beschuldigen. Zeugen, die dieses Gespräch bestätigen könnten, wurden nie befragt. Auf Anraten seines Anwalts fuhr Walker den reuigen Holländer noch am selben Tag nach Altdorf zum Polizeiposten, damit dieser dort seine Aussagen revidieren könne. Als Walker später bei der Polizei nachfragte, hiess es, Peeters sei nie beim Polizeiposten gewesen.
Fürchtet sich die Staatsanwaltschaft davor, der Kronzeuge könnte seine Anschuldigung gegen Walker zurückziehen, und verheimlicht deshalb jahrelang dessen Aufenthaltsort? Eine Frage, auf die es keine Antwort mehr geben wird. Für eine Befragung des Holländers vor Gericht ist es nun nämlich ohnehin zu spät: Wie die «Rundschau» herausgefunden hat, ist Peeters am 18. August 2015 nach schwerer Krankheit in Roubaix, Frankreich, gestorben.
Die Wahrheit darüber, was in jener Januarnacht 2010 vor dem Cabaret tatsächlich geschehen war, hat Peeters mit ins Grab genommen. Vor seinem Tod verfolgte er die Geschehnisse in der Schweiz offenbar mit grossem Interesse. So erhielt die «Rundschau» gemäss Pressetext im Februar, als Walker aus der Untersuchungshaft entlassen worden ist, ein Mail von Peeters, in der zu lesen ist: «Ich bin froh, dass er aus der U-Haft entlassen ist.»
Die Recherchen der «Rundschau» dürften sich auf den ganzen Fall Ignaz Walker auswirken. Können die Richter nicht überzeugt werden, dass Walker auf Peeters geschossen hat, dürfte es zudem schwierig werden, ihn mit dem Auftragsmord an Nataliya K. in Verbindung zu bringen. Der Zusammenhang der beiden Fälle, die gleichzeitig zur Anklage gebracht wurden, liegt nämlich in der Waffe, die bei beiden Taten identisch war. Kommt das Gericht zum Schluss, dass Walker nicht auf Peeters geschossen hat, fällt das Hauptindiz, die Tatwaffe, für den Schuss auf Nataliya K. weg.
Die Verhandlung vor Obergericht Uri wird heute mit dem Plädoyer der Verteidigung fortgesetzt und dauert voraussichtlich bis zum 3. November.
Die Recherchen der «Rundschau» werden heute Abend, 20.50 Uhr, auf SRF1 ausgestrahlt.