Albert M.* öffnet seine Zellentüre und führt durch sein Reich. «Achtung!», sagt er, und deutet auf die Waage am Boden. Er wiegt sich jeden Morgen. 42 Kilogramm, zeigt sie an. Der 62-Jährige ist 162 Zentimeter klein und hat seit Geburt - einer Frühgeburt - Untergewicht.
Er findet sein Zimmer gross. So viel Platz hatte er früher nicht. Verglichen mit einer normalen Gefängniszelle ist es zwar geräumig, verglichen mit einer Wohnung aber eng. WC, Bett, Fernseher, CD-Sammlung und Keyboard - alles in einem Raum. Dazwischen kann er nur zwei Schritte machen.
Albert M. lebt im modernsten Verwahrungsvollzug der Schweiz, in einer Wohngemeinschaft mit fünf anderen Männern. Sie sind zwischen 50 und 74 Jahre alt. Alle sind Schweizer. Sie haben ihre Strafen schon vor vielen Jahren abgesessen, aber sie bleiben eingesperrt, weil sie als Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft gelten. Der Hauptgrund ist also nicht ihre dunkle Vergangenheit, sondern ihre prognostizierte Zukunft.
Früher erhielten Verwahrte deshalb mehr Freiheiten ausserhalb der Gefängnismauern. Sie durften öfter und länger in den Ausgang als Insassen des Strafvollzugs. Früher bedeutet vor 1993, vor dem Mord am Zollikerberg. Die Tat hat den Justizvollzug verändert. Sexualstraftäter Erich Hauert ermordete damals die 20-jährige Pfadfinderführerin Pasquale Brumann während eines Hafturlaubs und verscharrte sie nackt im Waldboden.
Seither kommen viele Verwahrte nie mehr frei. Das Bundesamt für Statistik hat auf Anfrage eine Sonderauswertung durchgeführt. Weil die Zahlen so klein sind, publiziert sie das Bundesamt nicht auf seiner Website. Demnach registrierte es im vergangenen Jahrzehnt nur 36 Austritte aus der Verwahrung. Davon ist jede dritte Person in der Haft gestorben. Die Hälfte hat die Freiheit durch eine bedingte Entlassung erreicht.
Insgesamt sind in der Schweiz knapp 150 Menschen verwahrt. Sie befinden sich im Durchschnitt schon 18 Jahre im Gefängnis – auch diese Zahl haben die Statistiker auf Anfrage ermittelt. Die meisten Verwahrten sitzen in den gleichen Zellen wie ihre Kollegen vom Strafvollzug. Das Mobiliar ist standardisiert. Der Raum für Persönliches ist minim.
Die Justizvollzugsanstalt Solothurn ist die erste der Schweiz, die Verwahrten eine eigene Wohnumgebung bietet. Statt wie früher ausserhalb des Stacheldrahtzauns erhalten sie nun innerhalb der Sicherheitsumgebung mehr Freiheiten.
Die sechs Verwahrten wohnen im ehemaligen Direktionsgebäude auf dem Areal, wo einst der Direktor mit seiner Familie lebte. Sie schlafen in individuell eingerichteten Zellen, die das Personal nachts zwischen 21.45 und 6.45 Uhr abschliesst. Tagsüber dürfen sie sich im Gemeinschaftsbereich frei bewegen.
Die sechs Männer teilen sich ein Wohnzimmer mit einem schwarzen Ledersofa, eine Küche und einen Balkon. Am Wochenende kochen sie selber. Auch ihre Wäsche und die Reinigung der Alters-WG erledigen sie selbstständig.
Wer hier leben will, muss sich dafür qualifizieren. Die Bewohner müssen gruppentauglich sein. Anstaltsdirektor Charles Jakober erklärt: «Man muss manchmal auf seine Bedürfnisse zugunsten der Gruppe verzichten können. Wer sehr impulsiv ist und wenig Empathie hat, passt nicht hinein.»
Die Kantonsregierungen sehen die Solothurner WG als Vorbild. Dieses Jahr haben die Justizdirektoren des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz entsprechende Empfehlungen verabschiedet. Alle grossen geschlossenen Anstalten planen nun ähnliche Projekte.
Die Zürcher Regierung hat soeben einen Kredit für die Justizvollzugsanstalt Pöschwies beschlossen, das grösste Gefängnis der Schweiz. Schon im nächsten Jahr sollen Verwahrte mehr Freiheiten erhalten. Grosszügigere Regelungen sind in folgenden Bereichen angedacht: bei Telefon, Videotelefonie und Besuch, den arbeitsfreien Tagen, der Arbeitspflicht im Rentenalter und der Zellenausstattung.
Die Massnahmen haben ihren Preis. Ein Gefangener im normalen Strafvollzug kostet rund 300 Franken pro Tag. In der Verwahrten-WG sind es 600 Franken. Das liegt daran, dass diese mehr Platz innerhalb der teuren Sicherheitsinfrastruktur benötigt. Einsparungen fallen zudem keine an. Der Personalaufwand ist gleich gross.
Ist das Sondersetting luxuriös? Gefängnisdirektor Jakober entgegnet: «Ich persönlich bin froh, dass ich nicht in einer Sechser-Männer-WG leben muss. Ich habe schon meine eigene WG-Zeit als Student eher schwierig in Erinnerung.» Er betont, dass die Verwahrten nur aufgrund einer schlechten Prognose eingesperrt seien: «Das geht nicht zum Nulltarif.»
Albert M. übt auf seinem Keyboard für die anstaltsinterne Weihnachtsfeier. In der Turnhalle wird er mit einer Band vor 60 Gefangenen und Betreuern auftreten. Auf einem Blatt Papier hat er notiert, was er beachten muss, damit er seine Einsätze nicht verpasst. Zum Beispiel: «Bis 3 im Kopf zählen.»
Auf Weihnachten freut er sich aber nicht. Die vielen Besuche deprimieren ihn. Denn niemand kommt zu ihm. Er sitzt rekordverdächtig lange hinter Gittern: seit 37 Jahren. In dieser Zeit hat er viele Kontakte zur Aussenwelt verloren.
Sein Leben war schon beschädigt, bevor es begonnen hatte. Seine Mutter trank während der Schwangerschaft Alkohol und vergiftete dadurch den Fötus in ihrem Bauch. Sein Gehirn konnte sich nicht normal entwickeln. Ärzte diagnostizierten bei Albert eine organische Persönlichkeitsstörung.
Wenn er darüber spricht, fasst er sich an den Kopf und sagt:
Er wirkt auch im Gespräch normal und schildert seine Geschichte während vier Stunden reflektiert und präzise.
Sein Leben ist aber alles andere als normal verlaufen. Es ist vom ersten Tag bis heute geprägt von Fremdplatzierungen und Versetzungen. Zuerst von Heim zu Heim und später von Gefängnis zu Gefängnis.
Auf dem rechten Arm hat Albert M. den Schriftzug «Grellingen» tätowiert. Aus dieser Baselbieter Gemeinde stammt seine Mutter. Er lebte aber nie dort. Sie übergab ihn direkt nach der Geburt im Kinderspital in ein Kinderheim. Heute sagt er: «Ich bin auf die Welt gekommen und schon wurde ich – auf Deutsch gesagt – weggeschmissen.»
Zu seinen Eltern hatte er nie eine Beziehung. Wenn er von seinem «Müeti» spricht, meint er eine der Leiterinnen des Kinderheims in Wolhusen LU. Sie habe ihn nur ein einziges Mal geschlagen. Er war sechs Jahre alt und wollte mit den Kindern in einer Garage ein Lagerfeuer machen. Sonst bezeichnet er seine Kindheit als schön.
Mit 14 beging er allerdings die ersten Delikte: Diebstähle, Einbrüche, Sachbeschädigungen. Mit 19 sass er das erste Mal in Untersuchungshaft, weil er aus einer Pflegefamilie davongelaufen war. Er absolvierte eine Lehre als Gärtner und hatte danach, wie er sagt, die beste Zeit seines Lebens in einem Wohnheim in Ruswil LU.
Das Unglück begann, als seine wichtigste Beziehung in die Brüche ging: Er hielt einen Schäferhund, den er einst von seinem «Müeti» als Welpe erhalten hatte. Als ein Mitbewohner unerwartet in seinem Zimmer auftauchte, ging der Hund auf ihn los. Ein Polizist kam vorbei und stellte Albert vor die Wahl: Entweder kommt der Hund in ein Tierheim oder er wird erschossen. Albert drückte selber ab. Aus seiner Sicht war dies sein erstes Tötungsdelikt.
Albert war 25 Jahre alt und ertränkte seine Trauer im Alkohol. An Ostern 1986 machte er eine Velotour an die Chilbi in Bremgarten. Er soff die ganze Nacht. Auf dem Heimweg kam er bei einem Bauernhaus vorbei. Es blitzte und donnerte. Wegen eines Blitzeinschlags ging plötzlich ein Alarm los. Der Bauer rannte in den Schweinestall.
Albert klopfte an der Tür. «Ohne zu überlegen ging ich einfach hinein», erzählt er. Im Schlafzimmer traf er auf die 26-jährige Bäuerin. Er wusste nicht, dass sie schwanger war. Er fragte sie, ob sie ihm helfen könne. Doch als sie den Betrunkenen sah, wollte sie die Türe zuschlagen. Ein Gerangel entstand.
Er nahm einen Stoffgurt und wollte sie fesseln. «Im Suff habe ich nicht begriffen, dass ich ihr den Gurt um den Hals wickelte», sagt er. Als der Bauer zurückkam, sah er Albert auf seiner toten Ehefrau. Er warf ihm später vor, sich an der Leiche sexuell vergangen zu haben. Albert M. bestreitet dies. Seine Hose sei geöffnet gewesen, weil sein Knopf nicht richtig funktionierte. Der Bauer prügelte Albert fast zu Tode und übergab ihn der Polizei.
Das Luzerner Kriminalgericht verurteilte ihn 1987 wegen Mordes zu zwölf Jahren Zuchthaus und einer Verwahrung, die bis heute dauert. Schon in den 1990er-Jahren sass Albert M. in der Solothurner Justizvollzugsanstalt. Damals war sie noch nicht von Zäunen mit Nato-Stacheldraht umgeben. Albert M. lebte im offenen Vollzug, aus dem er einfach hätte davonlaufen können. Dann geschah der Mord am Zollikerberg. Die Schweiz war in Aufregung.
Die Justiz verschärfte den Verwahrungsvollzug sofort im ganzen Land. Zuerst habe ihm der Direktor versichert, er könne hier bleiben. Doch dann belauschte Albert M. eine Sekretärin bei einem Telefongespräch, wonach er doch versetzt werde. Albert M. lief davon, viele Kilometer der Aare entlang. Einen Plan hatte er aber nicht und so verhaftete ihn die Polizei bald.
Kürzlich wehrte sich Albert M. bis vor Bundesgericht, dass er endlich aus der Verwahrung entlassen werde. Er möchte in ein Wohnheim wechseln. Doch das höchste Schweizer Gericht hat seine Beschwerde abgelehnt.
Albert M. argumentierte, er sei alt und schwach und somit gar nicht mehr in der Lage, eine Tat wie 1986 zu begehen. Das Bundesgericht entgegnet, dass auch ein Senior mit wenig Kraft in der Lage sei, eine Frau mit einem Stoffgurt zu strangulieren. Nach dem 50. Lebensjahr nehme die Gefährlichkeit zwar tendenziell ab. Doch bei Albert M. sei die Gefahr immer noch zu gross.
Gemäss dem aktuellen psychiatrischen Gutachten ist sein Risiko für Tötungsdelikte in Freiheit «moderat bis erhöht». Das Bundesgericht betont zudem, dass Albert M. eine Therapie abgebrochen habe, weil er damit überfordert sei. Seine Intelligenz sei schwach. Sein IQ betrage nur 65.
Albert M. legt wortreich dar, dass er die Therapie nicht aus diesem Grund abgebrochen habe. Er sei mit seiner Therapeutin übereingekommen, dass es so keinen Sinn mehr mache. Er habe schon so viel über seine Tat geredet. Doch inzwischen habe er damit abgeschlossen. Der Mord sei ihm auch nah gegangen. «Es ist nicht schön, was ich getan habe.» Aber nun wolle er nicht mehr darüber diskutieren.
Ist Albert M. gefährlich? Mit der Fotografin und dem Reporter darf er alleine in einem Raum sein. Seine Stimme zittert, wenn er über Ungerechtigkeit spricht. Aber er hat sich unter Kontrolle. «Ich gehe regelmässig in den Ausgang und komme sauber zurück. Wie soll ich sonst noch beweisen, dass ich nicht mehr gefährlich bin?», sagt er. Zwei Betreuer begleiten ihn dabei jeweils.
Albert M. wirft der Schweiz vor, dass sie die Menschenrechte von Verwahrten verletze. Deshalb zieht er seinen Fall mit seinem Anwalt vor den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Die Solothurner Alters-WG sieht er zudem nicht als Vorbild. Die Freiheiten gehen aus seiner Sicht zu wenig weit. Er und seine Mitbewohner fordern, dass sie in der Garage einen Hobbyraum mit Fräsmaschinen und Kreissägen einrichten dürfen. «Das ist zu gefährlich», sagt der Gefängnisdirektor dazu.
Zudem verlangt die Männer-WG freien Internetzugang und Handybenutzung. «Das wäre wegen der Internetkriminalität nicht vernünftig», entgegnet der Direktor.
Weiter wollen die Verwahrten mehr Ausgänge. Doch dafür fehle einerseits das Personal, heisst es. Andererseits gilt das Risiko bei einigen Insassen als zu hoch für einen Spaziergang in Freiheit.
Und für sie ganz wichtig: Die Eingesperrten wünschen sich Haustiere. Doch auch dies sieht der Gefängnisdirektor skeptisch. Hühner und Schildkröten leben bereits auf dem Areal. «Wir hatten auch schon Hamster, Meerschweine und eine Hauskatze. Die Erfahrungen waren nicht gut. Plötzlich waren Tiere tot und niemand übernahm Verantwortung dafür», sagt er.
Die Verwahrten beweisen in ihrer WG, dass sie in diesem Setting friedlich miteinander zusammenleben können. Der Gefängnisdirektor mag die sechs Schwerverbrecher persönlich alle. Er sagt: «Diese sechs Männer sind eine Top-Crew. Ich habe bei jedem von ihnen ein gutes Gefühl. Aber das reicht einfach nicht, um sie freizulassen.» (bzbasel.ch)
Ausserdem ist es sehr fraglich, ob jemand in diesem Alter und fast ohne Kontakte zur Aussenwelt sich bei einer Freilassung überhaupt wieder sinnvoll in die Gesellschaft integrieren kann.