Die Berliner sagen: «Ohmeingott! Der Künstler und der Kurator sind zusammen in diesem Flugzeug nach Berlin geflogen! Aus der Schweiz!» Der Künstler und der Kurator also, zwei Schweizer: Roman Signer und Andreas Fiedler. Wir fragen Roman Signer: «Stimmt es, dass Sie und Herr Fiedler in diesem Flugzeug nach Berlin geflogen sind?» Roman Signer lacht: «Sicher nicht. Das Flugzeug ist brav auf einem Lastwagen nach Berlin gefahren. Aber es wäre schon flugtauglich. Theoretisch.»
Der kleine gelbe Doppelsitzer, der über den Köpfen des Publikums an einem Gelenk an der Hallendecke hängt und von Ventilatoren bewegt wird. Ein Verweis auf den nur schleichend gebaut werdenden neuen Berliner Flughafen? Eine Hommage an die nahe gelegene Stadtbrache, das Tempelhofer Feld?
Roman Signer gibt uns noch schnell ein Autogramm, dann verschwindet er in einer Gruppe amerikanischer, deutscher, englischer oder schweizerischer Fans. Und das, obwohl ausser den Schweizern nicht jeder an diesem Abend in Neukölln so genau weiss, wer Roman Signer eigentlich ist. In der Pressemappe steht, dass Roman Signer an der documenta 8 in Kassel 1000-Blatt-grosse Papierstapel explodieren liess. Das war 1987. Aber Roman Signer ist unfassbar hip an diesem kühlen Berliner September-Abend, denn mit ihm wird das «KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst» eröffnet, beziehungsweise dessen Kesselhaus, der erste, bereits renovierte Ausstellungsraum von vielen.
Über 1200 Quadratmeter werden hier ab 2015 als Austellungsfläche zur Verfügung stehen, auf drei Stockwerken, im Turm werden Ateliers, Büros und ein Fotolabor entstehen, es wird ein riesiges Café geben und einen echten Berliner Biergarten, schliesslich handelt es sich beim KINDL um die zwischen 1926 und 1930 gebaute Kindl-Brauerei. Direkt daneben entsteht, was neben der angesagtesten Immobilie von Berlin entstehen muss: Luxuswohnungen.
Die Berliner Kunst-Crowd ergeht sich in Superlativen und die Steigerung von übersuper lautet so: «Das ist die Tate Modern von Berlin!» Weil die Fassade mit dem 38 Meter hohen Turm tatsächlich ein wenig an die Tate Modern erinnert. Deren Turm ist 99 Meter hoch. Aber beides sind Tempel für zeitgenössische Kunst. Und Roman Signers Flugzeuginstallation – die Hängung der gelben «Kitfox Experimental» suggeriert einen Sturzflug – ist nicht nur das erste ausgestellte Werk, sondern auch speziell für dieses Neuköllner Kesselhaus konzipiert worden.
Und wer hat es ermöglicht? Reiche Menschen aus Zürich. Die Architektin Salome Grisard und ihr Mann, der Investmentbanker Burkhard Varnholt. Sie entdeckten das Gelände einst bei einem Spaziergang durch Berlin, 2011 unterschrieben sie den Vertrag, allein der Umbau kostet sie sechs Millionen Euro. In Berlin hat das Mäzenen-Ehepaar Heldenstatus.
In der Schweizer Wirtschaftsszene ist zumindest Burkhard Varnholt, der an der Vernissage in einem unübersehbaren hellblauen Débardeur auftritt, umstritten: Das Branchenportal «Inside Paradeplatz» kritisierte im vergangenen Dezember Varnholts Wahl zum obersten Investmentbanker von Julius Bär als «Liebesdienst», zumal Varnholt davor bei Sarasin gescheitert und bei Raiffeisen abgewiesen worden sei.
Den Berlinern ist das egal. Die sind bekanntlich arm und brauchen das Geld. Nur die Frage, ob das KINDL jetzt zum Gentrifizierungsturbo werden könnte, beschwert die ausgelassene Vernissagefeier ein wenig. Denn Neukölln ist jetzt gerade, was Kreuzberg und Friedrichshain vor Jahren waren: Eins jener wunderbaren Berliner Quartiere, die das kreative Prekariat und die Studenten aus seiner grimmigen Tristesse herausgeholt haben, provisorisch, improvisiert, schillernd und günstig.
Wo in Kreuzberg heute Reisebusse aus der Schweiz vor den Bioläden halten und in Friedrichshain Deko-Punks malerisch durch Billig-Fressmeilen streifen, ist Neukölln aktuell noch ein gut durchwachsenes Gemisch aus Alt und Jung, aus eingesessenen Trödelläden und den ersten schäbig-schicken Cafés. Neukölln, das ist noch immer die laute Schnauze von Berlin.
Am Rande des KINDL-Geländes, das nächstes Jahr als hochgetunter Kunst-Erlebnis-Tempel dastehen wird, drehen auch nächstes Jahr immer noch die Neuköllner Kart-Fahrer auf 10'000 Quadratmetern reifenkreischend ihre Runden. Vielleicht können sie ja mithelfen, dass die Auflösung Neuköllns in Luxussanierungen und Designer-Boutiquen für werdende Mütter noch ein wenig hinausgezögert werden kann. Dem Maschinen- und Fortbewegungs-Fetischisten Roman Signer würden sie gewiss ausnehmend gut gefallen. Ob der 76-Jährige nach seiner Vernissage noch eine Spritzfahrt in der Halle unternahm, konnten wir leider nicht mehr ermitteln.