Raya* musste mittags Punkt 12 Uhr zu Hause sein. Stiess sie eine Minute zu spät die Haustüre auf, schrie der Vater sie an und warf mit Essen um sich. Doch auch wenn sie pünktlich erschien, blieb sie stets auf der Hut. Wie ist Vaters Stimmung? Wie gelingt es, ihn nicht zu reizen? Nach diesen Fragen richtete Raya sich aus. «Ich hatte grosse Angst vor meinem Vater und von den Eskalationen zu Hause», sagt sie. Denn es flog nicht nur das Essen durch die Luft. Auch körperlich und seelisch war er gewalttätig. Er trank, konsumierte Drogen, hatte Psychosen und Schizophrenie.
Dringend hätte Rayas Vater psychiatrische Hilfe benötigt. Doch diese verboten seine Eltern ihrem erwachsenen Sohn. Der Nachkomme einer angesehenen Familie durfte nicht psychisch krank sein. Dabei wussten seine Eltern, wie es um ihn stand. Regelmässig mussten sie eingreifen, wenn er seine Dämonen im Alkohol zu ertränken versuchte.
Wie gelingt es, in einem Haus aufzuwachsen, das mit emotionalen Minen gepflastert ist? In dem Unwägbarkeiten und Gewalt herrschen statt Verlässlichkeit und Geborgenheit? Raya ist inzwischen 39 Jahre alt. Heute weiss sie, weshalb sie als Kind eine extreme innere Anspannung verspürte, häufig an Migräne oder Bauchschmerzen litt und zeitweise feste Nahrung verweigerte. Sie weiss auch, weshalb sie als Erwachsene nur mit Medikamenten ihre Ängste kontrollieren kann.
Raya gehört zu den 1,9 Millionen Menschen in der Schweiz, die als Kind unter der psychischen Erkrankung eines Familienmitgliedes gelitten haben. Diese Zahl stammt aus der Studie «Stand by You» der gleichnamigen Dachorganisation für Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Viele von ihnen gaben in der Umfrage an, in ihren jungen Jahren mit der Situation überfordert gewesen zu sein, sich alleine, verletzt oder vernachlässigt gefühlt zu haben.
Das Institut Kinderseele Schweiz in Winterthur ist eines der wenigen Angebote, das sich um Kinder und Jugendliche mit einem psychisch kranken Elternteil kümmert. Viel zu oft bleibt deren Notlage im Verborgenen. Das bringt häufig schwerwiegende Folgen mit sich. «Ein Drittel der betroffenen Kinder wird selbst schwer psychisch krank. Ein weiteres Drittel ist psychisch derart belastet, dass die Kinder zwar ihr Leben meistern, aber nie ihr ganzes Potenzial ausschöpfen können», sagt Alessandra Weber, Geschäftsleiterin des Instituts Kinderseele Schweiz.
Diese hohen Zahlen seien nicht alleine auf die genetischen Veranlagungen zurückzuführen. «Ob eine psychische Krankheit bei entsprechender Disposition ausbricht oder nicht, hängt stark von den psychosozialen Umständen ab», sagt Weber. Das bedeutet: Wie wird den Kindern die Krankheit erklärt? Wachsen sie trotzdem mit Bezugspersonen auf? Erleben sie, ob dem Vater oder der Mutter geholfen wird?
«Der wichtigste Schutzfaktor ist, dass der betroffene Elternteil in Behandlung ist – was leider häufig nicht der Fall ist, insbesondere wenn die Krankheitseinsicht fehlt. Mindestens eine verlässliche Bezugsperson und ein offener Umgang mit der Krankheit sind ebenfalls zentral», sagt Weber. Kinder müssten die Welt verstehen, in der sie leben. Sonst reimen sie sich Gründe zusammen und suchen die Erklärung bei sich. Zu frech, zu schlecht in der Schule, zu wenig liebenswert: Solche Schuldgefühle seien Gift für die eigene Entwicklung, sagt Weber.
Das hat auch Valy* erlebt. Ihre Mutter war mehrfach in psychiatrischen Kliniken. «Ich dachte oft, sie sei dort, weil ich zu anstrengend war. Deshalb packte ich sie in Watte ein. Nie hätte ich als Teenager rebelliert», sagt sie. Valy wuchs ohne Geschwister und ohne Vater bei ihrer Mutter auf. Zwar gibt es mütterlicherseits eine grosse Familie. Allerdings schämt sich diese für die IV-Rente, die Valys Mutter bezieht. Sie sagt:
Sie ist Mitte 20, studiert und weiss inzwischen selbst, wie es sich anfühlt, wenn nichts mehr geht. Seit drei Jahren versucht sie, aus einer Erschöpfungsdepression herauszukommen. Sie, die bereits als Kind und später als Teenager für ihre Mutter Verantwortung übernommen hat, die kochte, putzte und Briefe an die Ämter schrieb, ist am Ende ihrer Kräfte. Bis heute sorgt sie sich um ihre Mutter, die inzwischen körperlich pflegebedürftig ist. «Mein Hauptproblem ist, dass ich nie gelernt habe, auf mich achtzugeben. Ich kann schlecht Grenzen setzen, kenne meine Bedürfnisse nicht und kann sie auch nicht einfordern. Gleichzeitig habe ich verinnerlicht, nur geliebt zu werden, wenn ich helfe», sagt Valy.
Bereits als Kind war sie häufig auf sich gestellt. Der Mutter fehlte die Energie, sich um die Tochter zu kümmern. Gleichzeitig lebten sie derart in einem Mikrokosmos, dass sich gewisse Ängste der Mutter auf das Mädchen übertrugen. Etwa als sich die Mutter mit Panikattacken in der abgedunkelten Wohnung verschanzte. Valy musste damals jeden Abend kontrollieren, ob sich niemand in der Wohnung versteckt hielt und ob alle Storen gut verschlossen waren. Plötzlich erschien auch Valy die Welt sehr bedrohlich.
War die Mutter in einer Klinik, lebte die Tochter bei einer Pflegefamilie. Dort lernte sie viel und trieb intensiv Sport. Die Pflegeeltern liess Valy nicht an sich heran. «Ich hatte immer grosse Angst, dass ich in ein Kinderheim kommen könnte. Deshalb wägte ich genau ab, was ich erzählte und was nicht», sagt sie.
Obwohl die Mutter fast durchgehend in ärztlicher Behandlung war, hat nie jemand danach gefragt, wie es dem kleinen Mädchen geht. Auch die Lehrpersonen erkundigten sich nicht, als Valys Pflegemutter plötzlich die Prüfungen unterschrieb.
Das sei typisch, sagt Alessandra Weber. «Bis heute wird im Umfeld der betroffenen Kinder viel zu oft weggeschaut. Dabei sitzen in einer Schulklasse im Schnitt vier bis fünf von ihnen. Kinder selbst sind loyal, sie holen sich in der Regel nicht Hilfe. Deshalb müssen sich alle ihre Kontaktpersonen mitverantwortlich fühlen», sagt die Geschäftsleiterin des Instituts Kinderseele. Ihr Team berät nicht nur Familien, sondern auch Verwandte oder Bekannte und schult Fachpersonen. Seitens der psychiatrischen Kliniken stellt Weber ein langsames Umdenken fest, sodass vermehrt an die Kinder der Patientinnen und Patienten gedacht wird.
«Allerdings ist die psychiatrische Erwachsenenversorgung am Anschlag. Deshalb werden wir seitens des Personals oft mit der bangen Frage konfrontiert, wie sie auch noch diese Zusatzaufgabe leisten sollen», sagt Weber. Für sie ist es zentral, dass die Fachleute überhaupt den Bedarf erkennen – und wissen, was es für Beratungs- und Begleitungsmöglichkeiten für die Betroffenen gibt.
Raya sagt rückblickend, dass es ihr am meisten geholfen hätte, wenn ihr Vater in eine Psychiatrie gekommen wäre. «Mein Vater war überfordert mit seiner eigenen Lebensgeschichte, den Anforderungen seiner Eltern und als Geschäftsführer. Er hatte grosse Angst, nicht zu genügen, und betäubte diese mit Alkohol und Drogen. Er war eigentlich ein guter Mensch, der die Kontrolle über sich und sein Leben verloren hatte», sagt Raya. Halt fand er nie mehr. Ihr Vater tötete sich, als Raya 13 Jahre alt war. In der Schule schickte der Lehrer sie vor die Türe, um in ihrer Abwesenheit der Klasse zu erklären, was passiert war. Auch in der Nachbarschaft und im Freundeskreis herrschte pure Überforderung, die sich in Schweigen manifestierte.
Anschluss fand Raya erst, als sie begann, Drogen zu nehmen. Mit den ebenfalls konsumierenden Freunden sprach sie über die Suchtmittel und nicht über Privates. «Die Drogen halfen mir zudem, das Erlebte kurzzeitig zu vergessen», sagt Raya. Sie hörte damit auf, als sie schwanger wurde. Doch Ängste dominierten das Leben der jungen Mutter. Alles schüchterte sie ein: die Verantwortung für ihr Kind, aber auch das Einkaufen im Supermarkt umgeben von fremden Menschen.
Raya, die selbst erfahren hat, welche Folgen eine fehlende Therapie bei einem psychisch erkrankten Elternteil haben kann, schaffte es, einen anderen Weg einzuschlagen. Sie holte sich professionelle Hilfe. Sie sagt:
Ihr Sohn wächst deshalb nicht abgeschottet auf. Immer wieder blättern Raya und er durch Kinderbücher, in denen Schatten über die Protagonisten fallen. Er weiss, dass seine Mutter psychische Probleme hat. Aber auch, dass sie damit nicht alleine ist und einen Umgang für sich gefunden hat.
*Name geändert (aargauerzeitung.ch)