Vor einer Kirche im Kreis vier in Zürich. Menschen versammeln sich. Sie begrüssen einander mit langen, festen Umarmungen. Egal, ob sie sich zum ersten Mal sehen oder sich bereits kennen – sie gehen aufeinander zu, drücken sich und lachen sich an. Drinnen, im Pfarreisaal, steht ein Tisch mit Kaffee und Kuchen.
«Ich heisse Manuelo*, ich bin süchtig.» So beginnt das Treffen der Narcotics Anonymous (NA), eine Selbsthilfegruppe für Süchtige. Und jeder stellt sich während dem einstündigen Meeting jedes Mal so vor, bevor sie oder er etwas sagt.
«Hallo Manuelo», antwortet die Gruppe im Chor. «Halten wir zuerst inne für all diejenigen, die süchtig sind, und jene, die in diesem Augenblick zum ersten Mal Drogen nehmen», fährt Manuelo fort. Die Köpfe senken sich, kurz ist es ruhig.
Dann wird die Präambel verlesen. Ein dreiseitiger Einleitungstext eines jeden NA-Treffens, egal wo auf der Welt.
«Wer ist zum ersten Mal hier?», fragt Manuelo. Ein junger Mann mit hellblau kariertem Hemd hebt die Hand. Alle klatschen und pfeifen. Er kriegt einen weissen Willkommens-Chip und es wird ein Notizpapier herumgereicht, auf dem die NA-Teilnehmer ihre Handynummer für ihn aufschreiben können. «Die Neuankömmlinge sind die wichtigsten Personen bei jedem Meeting, denn wir können nur bewahren, was wir haben, indem wir es weitergeben», heisst es in der Präambel.
Bei Carole* liegt das erste Treffen schon fast ein Jahr zurück. «Ich kann mich praktisch nicht mehr daran erinnern. Es war mein zweiter Tag ohne Drogen, ich war also ziemlich kaputt.» Sie hat mehrere Jahre Kokain und Alkohol konsumiert. Ihr Tag habe nur noch daraus bestanden, für Drogen irgendwohin zu fahren.
Immer wieder versuchte sie, von der Sucht wegzukommen. «Vor den Drogen war ich jemand, der seine Dinge im Griff hatte, seinen Scheiss hinbekam. Bis zum Schluss wollte ich dieses Bild aufrechterhalten.» Traf sie einen Bekannten auf der Strasse, sagte sie, sie sei krank. «Ich habe so schlimm ausgesehen.» Dieser Wille, den Schein zu wahren, habe sie am Schluss fast «gekillt». Carole liess sich für sechs Wochen in eine Tagesklinik einweisen. Seitdem besucht sie vier- bis fünfmal pro Woche ein Meeting der NA. «Würde ich nicht mehr gehen, würde das nicht gut kommen.»
Seit dem ersten NA-Meeting ist Carole clean. Bald feiert sie ihren «Geburtstag». So nennen sie es, wenn jemand eine weitere Etappe erreicht hat und einen neuen Chip bekommt. Eine Woche, 30 Tage, drei Monate, ein halbes Jahr, ein Jahr. Bis zum schwarzen Chip – der steht für mehrere Jahre clean. «Ich bekomme bald den durchsichtigen Chip für ein Jahr ohne Drogen. Der leuchtet sogar in der Nacht, crazy!», sagt Carole und lacht.
Ein Mann mittleren Alters, der zuvor mit seiner türkisfarbenen Vespa angefahren gekommen ist, hält einen Chip in der Hand und drückt diesen fest. Seine Augen sind geschlossen. Dann reicht er den Chip weiter. «Bevor die Geburtstags-Person den Chip erhält, gibt jeder von uns seine positiven Gedanken mit», erklärt Carole.
Schaut man sich in der Gruppe um, sieht man eine Frau, etwas über dreissig Jahre alt, kurze zusammengebundene Haare, modisch angezogen. Sie könnte eine Lehrerin im hippen Wiedikon sein, die samstags am Markt einkauft und in einer schmucken Altbau-Wohnung wohnt. Neben ihr sitzt ein junger Mann, vermutlich unter 25 Jahre alt, hellblaues Poloshirt. Er könnte eine Banklehre gemacht haben und mitten in seinem Bachelor-Studium stecken.
«Viele haben ein falsches Bild von Süchtigen. Sie stellen sich kaputte Menschen mit kaputten Leben vor, die sich keine Mühe geben, clean zu werden, und deshalb auf der Gasse leben», sagt Carole. Das stimme nicht, die Suchtkrankheit könne jeden treffen. Sie habe auch schon jemanden in einem Meeting getroffen, den sie kannte. Das sei komisch gewesen. «Aber es war auch schön, denn wir wussten beide, dass wir jetzt am richtigen Ort sind.»
Eine, die früher dem klassischen Bild einer Süchtigen entsprochen hat, ist Lia*. Mit 18 Jahren verkehrte sie das erste Mal im Platzspitz-Park. 1988 lernte sie ihren damaligen Mann kennen – wie sie war auch er heroinsüchtig. «Dann bin ich richtig abgestürzt.» Drei Jahre lang konsumierte sie intensiv. «Ich habe damals viel Geld geerbt. Innerhalb kürzester Zeit ist alles für die Droge draufgegangen.» Ihre Mutter wusste nichts von alledem, denn sie wohnte in Stockholm. «Mein Chef hat sie angerufen und erzählt, wie es um mich steht. Sie ist sofort nach Zürich geflogen und hat mich geholt.» Doch nach nur drei Monaten stand Lia wieder auf dem Platzspitz. Ihre Mutter holte sie wieder. Dieses Mal ging es für Lia vom Flughafen direkt in die Entzugsklinik. Doch auch dort blieb sie nicht lange und haute wieder zur offenen Drogenszene in Zürich ab.
Beim dritten Mal wurde sie vom Schwedischen Konsulat geschnappt und erneut in eine Therapie in Stockholm gebracht. Während dieser besuchte sie ihr erstes NA-Meeting. Seit 1992 ist sie nun clean. «Aber ich brauche die Meetings immer noch.»
«Als ich erfahren habe, dass die Convention auf dem Platzspitz stattfindet, habe ich nur noch geheult», sagt Lia. Am Samstag kehrt sie zurück an den Ort, an dem sie fast an einer Überdosis gestorben wäre, und erzählt, wie sie clean wurde. Ob sie andere, ehemalige Süchtige vom Platzspitz, die sie kennt, treffen wird? «Nein, die sind alle tot.»
Die Gruppe steht auf und schliesst sich zu einem Kreis zusammen. Sie halten einander eng. Dann sagen sie das Gelassenheitsgebet, welches dem Heiligen Franziskus zugeschrieben wird, im Chor.
«Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»
Teilnehmer Oliver* hat seit Wochen viel um die Ohren. Er ist Teil des Organisationskomitees der Veranstaltung auf dem Platzspitz. Früher hingegen hielten ihn Heroin und Kokain auf Trab. «Es ging nur darum, wo kriege ich den Stoff, wie treibe ich den Stutz auf und wo konsumiere ich.» Er machte viermal einen Entzug. Jedes Mal wurde er wieder rückfällig. Erst beim fünften Versuch klappte es. Sieben Monate verbrachte er dann in der Klinik.
Dort nahm er an seinem ersten NA-Meeting teil. «Ich fand das so schräg. Händchen halten und von eigenen Gefühlen erzählen – das war für mich eine Katastrophe», erinnert sich Oliver. Doch einer der NA-Mitglieder habe sein neuntes Jahr clean gefeiert. «Dann dachte ich mir: ‹Wow, krass!› Meine längste drogenfreie Zeit bis dahin dauerte ein gutes halbes Jahr. Das war so anstrengend. Und dieser Mann war so entspannt und lachte.» Also ging er weiterhin zu den Meetings. Die Ehrlichkeit, mit der die anderen über ihre Geschichte und Gefühle erzählten, faszinierten ihn. «Mein ganzes Leben war eine Lüge. Ich führte ein Doppelleben und stritt ab, dass ich süchtig bin.»
Seit seinem letzten Aufenthalt ist er clean. «Als ich damals die Klinik verliess, stand ich mit meinem Köfferchen auf dem Parkplatz und hatte ‹u huere› Angst vor dem Leben.» Er wusste nicht, wie er es schaffen sollte, clean zu bleiben. «Kaum wurde es dunkel, hatte ich Suchtdruck», sagt Oliver. Deshalb sei er so froh gewesen, konnte er jeden Tag in ein NA-Meeting. «Ich wäre defintiv nicht clean geblieben ohne NA.»
Was ist es denn, das diese Treffen bei den Süchtigen so beliebt und erfolgreich macht? «Das Konzept ist einfach, ich muss nicht das Telefon in die Hand nehmen und irgendeinen Therapeuten anrufen. Ich kann nur hingehen und muss mich um nichts kümmern», sagt Oliver. Zudem fühlten sich die Süchtigen von den anderen verstanden und könnten sich mit ihnen identifizieren. Und sie fänden vor allem auch Freunde. «Ich trau mich das manchmal fast nicht zu sagen, aber: Das Wichtigste in meinem Leben ist NA, meine wichtigsten Freunde sind bei NA.» Das ginge vielen so, denn die meisten hätten nach dem Ausstieg aus den Drogen kein Umfeld mehr.
Der Leitspruch des NA-Programms lautet «Nur heute». Es gehe darum, in der Gegenwart zu leben. Früher sei er mit den Gedanken einerseits in der Vergangenheit gewesen, habe Schuld- und Schamgefühle gehabt. Und andererseits habe er schon an morgen und übermorgen gedacht und wusste nicht, wie er das schaffen würde. Jetzt lebt Oliver nach dem Motto der NA: «Ich bin immer nur für heute clean.»
*alle Namen geändert
Drogen müssen aus der illegalen tabu-zone geholt werden, damit diesen Menschen geholfen werden kann. Ich bin der kontroversen Meinung alle Drogen zu legalisieren, um Bedürftige besser zu erreichen
Mancher unsere Sklaventreiber und Anhänger von Comand, Control und Sanction würde es mal gut tun sich mich den Herausforderungen dieser Menschen auseinander zu setzten.
Du bist tatsächlich verloren, wenn du das eine nicht vom anderen unterscheiden kannst.
Du kannst Menschen nicht ändern. Aber du kannst dein Verhalten / Einstellung gegenüber ihnen ändern.